Ruf Des Dschungels
wenig gemildert. Endlich kann auch ich einnicken.
Plötzlich reißt mich etwas aus dem Schlaf, und ich bin auf einen Schlag hellwach. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Irgendetwas ist anders, ich spüre es mit allen Sinnen. Langsam stehe ich auf und sehe aus dem Fenster. Draußen herrscht totale Finsternis. Offenbar haben sie wieder mal den Strom abgestellt. Der Mond wirft sein fahles Licht auf die Holzhäuser, die entlang der Straße stehen.
Und plötzlich gerate ich in Panik, jede Zelle fühlt sich an, als wolle sie im nächsten Moment explodieren, meine Muskeln sind vor Schreck erstarrt. Es war nichts als eine kleine Bewegung im Augenwinkel, der Schatten eines Mannes, dann zwei weitere, die durch die Dunkelheit schleichen. Eine Stimme in meinem Kopf wiederholt, was mir erst vor kurzem jemand erzählt hat:
»Sie kommen immer in der Nacht, wenn der Strom abgestellt ist. Und jedes Mal in Gruppen von sechs Mann.«
Nein,
schießt es mir durch den Kopf,
das kann nicht sein. Das wäre ja wie in einem schlechten Film.
»Sie bringen ihre Opfer immer auf die gleiche Weise um, entweder brechen sie ihnen das Genick, oder sie stechen ihnen ein Messer in den Rücken.«
Ich bekomme keine Luft mehr, wage es nicht, mich zu bewegen.
»Sie sind ganz in Schwarz gekleidet und ziehen sich Masken übers Gesicht. Sie bewegen sich lautlos, töten und verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.«
Das ist sicher alles nur erfunden, ein Gerücht, das sich unter den Leuten verbreitet hat.
»Sie scheinen kein Motiv zu haben, denn sie machen bei ihren Opfern keinen Unterschied nach Rasse, Hautfarbe oder Religion. Wir leben in großer Angst, verbarrikadieren unsere Türen und Fenster, und sobald der Strom wieder einmal abgestellt wird, um Energie zu sparen, bleiben wir alle zusammen.«
Warum sollte ein Mensch so etwas tun, und wer ist zu solch einer Tat in der Lage?
»Wir wissen nicht, wer hinter diesen Angriffen steckt, es kann jeder sein. Sie sind so professionell, dass es heißt, es müsse sich um Außenstehende handeln.«
Wo ist der Beweis dafür, dass es tatsächlich geschieht, wo ist die Gewissheit?
»Das geht jetzt seit über einem Jahr so, und inzwischen sind alle größeren Städte in West-Papua betroffen.«
Ist an der Sache doch etwas dran? Wie könnten so viele Menschen in verschiedenen Städten alle dieselbe Geschichte erzählen, wenn sie nicht wahr wäre?
»Ich kann es bezeugen. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Es war spätabends, und ich war mit meiner Mutter zu Hause, als das Licht plötzlich ausging. Kurz darauf kamen sie durch die Eingangstür herein. Sie überfielen meine Mutter und brachen ihr das Genick. Ich konnte durch das hintere Fenster fliehen. Als ich ein paar Stunden später zurückkam, war ihre Leiche verschwunden. Wir haben sie nie wieder gefunden.«
Mir ist auf einmal schlecht, mein Magen rebelliert, das schmerzverzerrte Gesicht des Zeugen tanzt vor meinen Augen, sein Schluchzen, während er seine Geschichte erzählt, dröhnt mir in den Ohren.
»Warum geschieht so etwas? Wie lange sollen wir diese Ungerechtigkeit und den Schmerz denn noch ertragen? Was haben wir getan, dass wir so etwas verdienen? Warum hilft uns niemand?«
Mein Schrei erstirbt, als sich eine Hand fest auf meinen Mund legt. Jemand zieht mich auf den Boden.
»Beweg dich nicht«, flüstert Jon mir zu.
Er hält mich fest umschlungen, während ich am ganzen Körper zittere. Der Hund bellt wieder in der Ferne. Wir sitzen unter dem Fenster und lauschen, trauen uns nicht mal zu atmen. Der leise Widerhall von Schritten kommt unserem Zimmer immer näher. Jon schiebt mich unters Bett.
»Was auch immer passiert, rühr dich nicht«, zischt er mir zu.
Dann geht er vor dem Bett in Stellung. Stille. Die Türklinke quietscht leise, und von meinem Versteck unter dem Bett aus sehe ich, dass die Tür sich langsam öffnet.
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16 Ein Tag wie jeder andere
D er Klang von Trauergesängen erfüllte die Luft, Geschichten aus der Vergangenheit wehten durch den grauen Morgenhimmel.
»Du warst meine engste Gefährtin, ooohhhh, unsere Herzen schlugen wie eines, ooohhhh, warum hast du mich verlassen, ooohhhh, wer wird jetzt mit mir Sago machen, ooohhh, wer soll jetzt mit mir lachen, mit mir weinen und mich trösten, ooohhh.«
Klorus Frau hatte lange gelebt und drei Söhne großgezogen. Wie viele weitere Kinder sie vor oder nach der Geburt verloren hatte, würden wir nie erfahren. Ich konnte mich nicht sehr gut an sie erinnern. Dennoch war
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