Ruf Des Dschungels
bricht auch schon alles hervor. Damit habe ich nicht gerechnet.
Als ich am Abend im Bett liege und mein Adrenalinspiegel wieder gesunken ist, überkommt mich nackte Angst. Mein Leben in Deutschland erscheint mir plötzlich nur noch als ferne Erinnerung, völlig irreal mit all dem Luxus. Die Probleme, die mir dort so groß und bedeutend vorkamen, sind mit einem Mal nichts weiter als Sandkörner, verglichen mit der Situation, der ich hier gerade ausgesetzt bin.
In jener Nacht bete ich um Schutz und darum, dass das, was ich entdeckt habe, ein Einzelfall sein möge. Doch insgeheim weiß ich ganz genau, dass dies bloß der Anfang ist.
Am nächsten Morgen fährt Jon in aller Frühe zum Flughafen. Die Männer haben einen ebenso mutigen wie genialen Plan ausgeheckt.
Die kommenden Stunden sitze ich da und warte angespannt auf eine SMS . Eine kleine Tasche mit den notwendigsten Dingen ist gepackt, für den Fall, dass wir schnell fliehen müssen. Jon hat einen Fluchtplan für mich vorbereitet, falls er bei der Aktion festgenommen wird. Er hat mir genaue Anweisungen gegeben, wohin ich gehen soll, damit ich sicher bin. Denn sollten sie ihn tatsächlich verhaften, wird es nicht lange dauern, bis die Polizei auf meine Spur kommt.
Die Minuten vergehen immer langsamer, je näher der entscheidende Moment rückt. Als der kritische Zeitpunkt erreicht ist, laufe ich unruhig auf und ab. Mama ist in die Kirche gegangen, um zu beten, außer mir ist niemand sonst im Haus. Mein Handy vibriert, ich habe eine SMS erhalten. Ich atme tief ein und öffne die Nachricht.
»Es hat geklappt.«
Ich lasse mich auf die Stufen vorm Haus fallen, unendliche Erleichterung durchströmt mich. Ich kann kaum glauben, dass wir es geschafft haben. Die Details unseres Plans kann ich hier nicht darlegen, denn es könnte die Beteiligten im Nachhinein gefährden. Aber ich möchte an dieser Stelle sagen, dass ich großen Respekt und Bewunderung für all die habe, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um die Studentenführer außer Landes zu bringen. Doch so ist es hier eben: Die Menschen halten zusammen, in guten wie in schlechten Tagen. Man opfert sich für die Gemeinschaft, für die anderen, ja für die gesamte Nation.
Wenige Tage später fahnden sie sogar im Fernsehen nach den beiden Studenten. Sie haben die Suche auf ganz Indonesien ausgedehnt. Außerdem sind bis zu dem Tag, da ich dies hier schreibe, in allen Studentenwohnheimen des Landes immer wieder Razzien durchgeführt worden.
Am nächsten Tag kündigt Jon an, er werde jemanden mitbringen, den ich kennen lernen sollte. Ich denke nicht weiter darüber nach und ahne nicht, was der Abend noch für mich bereithält. Und es geschieht in einer Nacht, in der totaler Stromausfall herrscht. Ist das ein Zufall?
Die Sonne ist schon untergegangen, Mama hat überall Kerzen aufgestellt. Ich sitze auf den Stufen zur Eingangstür, als Jon ankommt, hinter ihm drei Papua. Ich stehe auf, um sie zu begrüßen. Einer nach dem anderen schütteln sie mir die Hand.
Mama geht in die Küche, um Tee und etwas zu essen für die Gäste zu machen. Ich mustere die drei Männer, die inzwischen nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen. Der linke trägt eine lange Hose und ein gestreiftes Hemd, ein Hut bedeckt seinen Kopf. Ich schätze ihn auf Ende vierzig. Der Mann macht einen bescheidenen, ruhigen Eindruck, dennoch strahlt er eine gewisse Autorität aus. Neben ihm sitzt ein Mann, in dessen Augen eine tiefe Traurigkeit liegt. Ihm ist deutlich anzusehen, dass er gebildet ist, und tatsächlich stellt sich später heraus, dass er von Beruf Anwalt ist. Der dritte Gast ist der stillste von allen und sagt während des gesamten Treffens kaum ein Wort. Er ist klein von Gestalt, trägt lange dunkle Hosen und ein blaues, abgewetztes Hemd. Mit dem Bart, der seine Gesichtszüge verdeckt, und den dunklen, kleinen Augen sieht er aus wie ein Buschmann aus dem Bilderbuch. Er hat sich eine Tasche aus Baumrinde über die Schulter gehängt, und er hat eine seltsame Ausstrahlung, auch wenn ich nicht genau sagen kann, warum. Etwas Mächtiges geht von ihm aus, gepaart mit Gefahr, und ich kann den Blick die ganze Zeit nicht von ihm abwenden.
Als Erstes macht Jon uns förmlich miteinander bekannt, wie es in der papuanischen Kultur üblich ist. Den ersten Mann stellt er als Häuptling Noak vor und verkündet mit stolzer Stimme, unser Gast sei der Häuptling von Wasior, seinem Heimatort. Und er ist nicht nur Häuptling, sondern
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