Ruf Des Dschungels
Teil der Insel fahren sollten. Von dort aus sollten sie außer Landes gebracht werden. Doch es schien ein Missverständnis gegeben zu haben, was die Abfahrt des Bootes betraf, und so war das Boot schon weg, als sie am Hafen anlangten.
Zunächst waren sie völlig außer sich, doch später sollte sich herausstellen, dass dieses Missverständnis ihre Rettung war. Genau auf diesem Boot hatte die Polizei unmittelbar zuvor eine Razzia durchgeführt und zehn Studenten verhaftet, die West-Papua verlassen wollten.
Doch jetzt haben wir ein großes Problem. Wie sollen wir die beiden sicher über die Grenze bringen? Offensichtlich ist die Suche nach ihnen in vollem Gange, überall Sicherheitskräfte, und das Militär hat an allen wichtigen Straßen Sperren errichtet.
Ich betrachte die beiden jungen Männer, die am anderen Ende des Raumes sitzen. Sie sehen müde aus, und die Angst ist ihnen im Gesicht geschrieben. Meine Gedanken überschlagen sich, während ich im Geiste die verschiedenen Möglichkeiten durchspiele, wie wir ihnen helfen können.
Als Erstes müssen wir ihnen Ausweise mit Foto besorgen, schlage ich vor. Ihr Aussehen soll verändert werden, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Vor allem aber müssen wir uns beeilen, da der Geheimdienst uns sicher bald aufspüren wird.
Wir kommen zu dem Schluss, dass wir nur eine einzige Chance haben: Wir müssen so handeln, wie es niemand von uns erwartet, und die beiden Männer geradewegs durch die »Vordertür« außer Landes bringen. Die Fahndung konzentrierte sich hauptsächlich auf Schleichwege, auf Boote, Busse und Autos. Niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, dass wir so verrückt wären, sie einfach auf dem Hauptflughafen in eine Linienmaschine zu setzen.
Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf diesen Plan. Um das Leben ihrer Gastgeber nicht unnötig in Gefahr zu bringen, machen die beiden sich auf den Weg, sobald alles Nötige veranlasst ist. Wir haben ihnen für den nächsten Morgen einen Flug gebucht, damit ihnen noch genug Zeit bleibt, sich neue Ausweise und Fotos zu besorgen.
Ein Teil des Massengrabs
Nachdem die anderen gegangen sind, bleibe ich noch auf dem Sofa sitzen. Jon begleitet die Studenten, um sicherzustellen, dass alles glatt geht.
Völlig in Gedanken versunken, merke ich nicht, dass ein Mann das Zimmer betritt. Erst als er unmittelbar vor mir steht, sehe ich ihn und springe erschrocken auf. Er streckt mir die Arme entgegen, um mich zu beruhigen. Dann gibt er mir eine kleine Tasche aus Baumrinde. Er sagt, er sei geschickt worden, mir diese Tasche zu geben. Dann macht er kehrt und verschwindet in der finsteren Nacht. Mehrere Sekunden lang starre ich ihm nach, bis ich die Tasche öffne. Darin ist meine Kamera, die ich am Vormittag dem Augenzeugen mitgegeben hatte.
Ich drücke auf den Einschaltknopf. Es flackert, dann ist ein Bild zu erkennen. Zunächst ist es noch unscharf, doch während die Kamera hochfährt, wird es immer schärfer, bis ich schließlich die Überreste von mehreren menschlichen Schädeln erkenne.
Ich klicke weiter und merke, dass der gesamte Speicher voll ist. Es ist völlig still um mich herum, während sich die Bilder der Toten in mein Gedächtnis einbrennen. Als ich genauer hinsehe, merke ich, dass jemand dort ein Kreuz aufgestellt hat und dass auf manchen Schädeln etwas geschrieben steht. Was darauf steht, werde ich nie herausbekommen, aber das Kreuz, so wird mir später jemand erklären, haben die Anwohner aufgestellt, damit die Seelen der Toten zur Ruhe kommen. Da die Stammesleute äußerst abergläubisch sind, befürchten sie, die Toten könnten herumgeistern und ihnen Unglück bringen.
Ich sitze eine ganze Weile da und betrachte die Fotos. Schließlich gehe ich nach draußen, atme tief ein, starre in die Dunkelheit und komme mir völlig verloren vor in dieser Welt, die von meinem bisherigen Leben so unendlich weit entfernt ist. Das Ganze erscheint mir wie ein schlechter Traum, der jeden Moment zu Ende sein könnte. Wenn all das, was ich da sehe und höre, tatsächlich wahr ist, warum hilft keiner? Warum ignoriert die internationale Gemeinschaft dieses Land?
Ich bin hierher gekommen, um mit Zeugen über das zu sprechen, was sie seinerzeit erlebt haben. Wenn ich mich hier so umsehe, erscheint mir alles völlig normal, ich kann keine Anzeichen für Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen erkennen, nur ein enormes Militäraufkommen sticht ins Auge. Doch kaum kratze ich ein bisschen an der glänzenden Oberfläche,
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