Ruf Des Dschungels
nämlich an der Seite seiner Ahnen begraben werden und wünschte sich, dass seine Seele bei jenen Ruhe fand, die er liebte.
Einige Zeit darauf wurde der Häuptling tatsächlich ermordet. Unter lautem Klagen trugen sie ihn zu Grabe, und zahlreiche Menschen kamen herbei, um seinen Tod zu betrauern. Mehrere Monate später erinnerte sich der Freund an das Gespräch von jener Nacht zurück, und obwohl die Leiche des Häuptlings nicht verschwunden war, beschloss er, sich entlang der Grenze auf die Suche zu machen.
Was er dort entdeckte, so berichtete er, jagte ihm wahre Schockwellen durch den Körper. Er schilderte, wie er auf ein Areal stieß, das mit sterblichen Überresten und Skeletten unzähliger Menschen übersät war. Manche davon waren halb verscharrt, andere lagen einfach so herum. Er schilderte auch, dass dies nicht das einzige Feld der Verwüstung gewesen sei; wie viele er noch gesehen hatte, konnte er nicht sagen.
»Bringt mich dorthin«, höre ich mich in meiner Zimmerecke sagen.
Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Nur Jon ignoriert mich und stellt einem der Männer eine Frage.
»Bringt mich dorthin«, wiederhole ich, diesmal lauter.
»Es ist zu gefährlich«, antwortet Jon.
»Das ist mir egal. Ich will es mit eigenen Augen sehen«, sage ich.
»Nein«, entgegnet Jon, und diesmal ist die Verärgerung in seiner Stimme nicht zu überhören.
Plötzlich unterbricht eine Stimme unseren Zwist. »Ich bin mit meiner Geschichte noch nicht fertig«, erklärt der Zeuge leise.
Eine unheimliche Ruhe breitet sich im Raum aus. Ich schaue den Mann an, er ist ziemlich groß, und ich schätze ihn auf Ende fünfzig.
Er sieht uns direkt in die Augen und fährt mit seinem Bericht fort.
»Seit langem wird gerätselt, wie so viele Menschen in Papua spurlos verschwinden können. Ich bin hergekommen, um euch zu sagen, dass es Spuren gibt, viele Spuren sogar. Nur haben die meisten zu große Angst, um darüber zu reden, und nicht wenige werden bedroht, damit sie schweigen. Denn die Vergeltung kommt bestimmt, und sie wird mit brutaler Gewalt ausgeführt. Wer ist da, um uns zu beschützen? Wer ist da, um der Welt zu berichten, dass wir ermordet werden? Wer kann für unsere Sicherheit garantieren, wenn wir aussagen?«
»Ich brauche Gewissheit«, erwidere ich und betrachte ihn ebenfalls eingehend.
»Wenn du eine Kamera hast, dann sorge ich für Gewissheit«, antwortet der Mann. »Jon hat nämlich Recht. Der Ort, von dem ich gesprochen habe, ist in der Nähe einer großen Militärbasis. Eine weiße Frau würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Das wäre viel zu gefährlich.«
Ich nicke zustimmend, gehe meine Kamera holen und überreiche sie ihm.
»Morgen werde ich dir die Bilder bringen«, verspricht er.
Ich setze mich wieder hin, um den Rest der Geschichte anzuhören.
»Vor einiger Zeit kam ein einheimischer Fischer zu mir. Er sagte, er habe in einer verlassenen Gegend, wo er gerade arbeitete, eine furchtbare Entdeckung gemacht. Während er seine Netze auswarf, hatte er mehrere große Reissäcke bemerkt. Er fragte sich, warum sie im Wasser schwammen, paddelte auf einen der Säcke zu und zog ihn in sein Boot. Ein ekelerregender Geruch stieg von ihm auf. Der Fischer nahm ein Messer und schnitt den Sack auf. Ein Schrei entfuhr ihm, als ein abgetrennter Arm herausfiel. Der Mann war derart entsetzt, dass er alles zurück ins Wasser warf.
Nachdem der erste Schreck nachgelassen hatte, beschloss er, doch noch die anderen Säcke zu untersuchen. Sie enthielten alle das Gleiche: Arme, Beine, Torsi. Wie von Sinnen paddelte er zurück zum Ufer und holte zur Verstärkung mehrere Männer, die ihm beim Einsammeln der restlichen Säcke halfen. Sie reihten sie am Strand auf und öffneten sie: Jeder einzelne enthielt Teile mehrerer Leichen.
Offensichtlich haben die indonesischen Militärs aus ihren Fehlern in Osttimor gelernt, und um möglichst keine Beweise zu liefern, haben sie ihre Strategie geändert. Anstatt die Leichen an Land zu entsorgen oder zu verscharren, gingen sie dazu über, die Toten zu zerteilen und sie ins Meer zu werfen. In einem Fall, von dem mir aus erster Hand erzählt wurde, brachten sie eine ganze Gruppe von Papua aufs offene Meer hinaus. Sie mussten sich auf dem Rand des Bootes aufstellen, damit ihre Leichen gleich dort ins Wasser fielen, wo man sie erschoss. Niemand weiß, wie viele Leute auf diesem Weg beiseite geschafft worden sind.«
Nachdem die Männer wieder gegangen sind, bleibe ich stumm
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