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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte ich in der Ecke gegenüber der Tür, dass ein Stück des Teppichs zurückgeschlagen war. Als ich näher heranging, sah ich ein Loch im Boden, wo ein Stück Diele, etwa acht oder neun Zoll lang, herausgenommen worden war, und unter dem Kinderbett befand sich das fehlende Stück. Alles war dick von Staub bedeckt. Ich kniete nieder und blickte in den Hohlraum, aber es war zu dunkel, um etwas zu sehen, und meine Hand wollte ich nicht hineinstecken. Das, dachte ich, musste das «perfekte Versteck» sein, das Nell für ihr Tagebuch entdeckt hatte.
    Ich hatte das Tagebuch mitgenommen. Nun hatte ich den Impuls, es zu holen, und so ging ich den düsteren Korridor hinunter bis zum Treppenabsatz, wobei ich mich an jeder Ecke nervös umsah. Schwaches Klopfen war von der Galerie zu hören. Hätte ich nicht gewusst, woher die Geräusche rührten, wäre ich voller Entsetzen geflohen. Ich zitterte wieder vor Kälte. In meinem Zimmer legte ich Kohle nach und kauertemich vor den Kamin. Ich fragte mich, ob ich eine Nacht alleine hier aushalten würde. Nell hatte mehrere überstanden, sagte ich mir, und unter weit schrecklicheren Umständen; außerdem musste sie Clara beschützen.
    Aber warum hatte sie Clara in dieser dunklen, stickigen Zelle schlafen lassen? (Ich bemerkte, dass ich von Clara und mir wieder als von zwei verschiedenen Menschen dachte – als Schwestern.) Weil es bedeutete, dass Clara durch zwei verschlossene Türen vor Leid geschützt war? Diese Antwort stellte mich nicht zufrieden, aber eine andere kam mir nicht in den Sinn. Ich ging zu der Kammer zurück und schob das Tagebuch sehr vorsichtig in das Loch, langsam, nach und nach immer weiter, bis ich sah, dass es wirklich hineinpasste.
    Doktor Rhys hatte in seinem Bericht ausgesagt, dass er ein Loch im Boden in der Ecke des Kinderzimmers gesehen habe, kurz nachdem die Tür aufgebrochen worden war. Nell musste also das Versteck offen gelassen haben, als sie Clara am frühen Morgen zu ihrem Komplizen brachte. Ihr Tagebuch lag geöffnet auf dem Schreibtisch   … Aber sie könnte etwas anderes aus dem Hohlraum genommen haben – Aufzeichnungen? Geld? Juwelen?   –, doch hätte sie das nicht daran erinnert, das Tagebuch mitzunehmen, das gut sichtbar dalag?
    Meine Gedanken wurden von Schritten im Korridor unterbrochen und von Edwins Stimme, die meinen Namen rief. Ich schob das Tagebuch unter mein Schultertuch, als er im vorderen Zimmer erschien.
    «Hast du etwas gefunden?», fragte ich.
    «Nein», sagte er niedergeschlagen. «Raphael hat mich gerade aus der Bibliothek geschickt; er will den Generator testen. Sie sind recht geheimniskrämerisch. Ich erbot mich, nach einer verborgenen Kammer zu suchen – es soll hier solch ein Versteck geben   –, aber sie verschmähten meine Kenntnisse der Architektur. Und es ist auch gleichgültig: Es würde Wochen und Monate dauern, in diesem Haus nach Aufzeichnungen zusuchen. Mein Traum, hier etwas zu finden, das meinem Vater seine Ehre zurückgäbe, erweist sich mehr und mehr als eine Luftblase. Das ist ein Ort des Todes. Mir war noch nie so kalt.»
    Nach dieser düsteren Bemerkung gingen wir in den Salon zurück, um uns aus dem Picknickkorb zu stärken, den ich vorbereitet hatte. Edwin fachte das Feuer an, bis es eine glühende Kohlenmasse war, aber auch das konnte weder seine noch meine Stimmung heben. Wie er angedeutet hatte, gab es in diesem Haus etwas jenseits der fühlbaren Kälte: Es war nicht nur die Abwesenheit von Leben, sondern eine Feindseligkeit gegen alles Lebendige. Nach einiger Zeit ging er, um seine Suche wieder aufzunehmen. Ich wollte zu Nells Zimmer zurückgehen, blieb aber in dem muffigen Sessel sitzen, bis ich in einen Schlaf voll unruhiger Träume verfiel, aus dem ich erwachte, als Edwin anklopfte, um das Eintreffen der anderen anzukündigen.
     
    ∗∗∗
     
    Ich versuchte, meine Augen auf die Rüstung gerichtet zu halten, aber die Bewegung der Kerzenflammen lenkte mich ab. Ich konnte keinen Luftzug spüren, und doch flackerten die Flammen immer wieder synchron, als wäre jemand an ihnen vorbeigegangen. Die Wärme des Feuers schwand merklich dahin. Jeder Laut – das Knarren eines Stuhls, das Knistern des Feuers, das gelegentliche Rascheln von Kleidung – erschien wie ein Einbruch in die tödliche Stille der Galerie. Die glitzernde Schneide des Schwertes (die Raphael und Vine offensichtlich poliert hatten) stellte eine weitere Ablenkung von der dunklen Masse der Rüstung

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