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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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schimmernden Gestalt annahm. Sie löste sich von der Rüstung – nun schwach sichtbar in dem Lichtschein – und glitt auf uns zu. Sie hatte kein Gesicht, war unförmig, nur ein leerer Schleier aus Licht. Ich konnte mich nicht rühren, konnte nicht atmen.
    Ich hörte, wie die Tür der Bibliothek geöffnet wurde und wie sich Schritte näherten. Die Erscheinung kam flimmernd zum Stillstand.
    «Vernon», schrie St John Vine aus der Dunkelheit. «Wirst du mit uns sprechen?»
    «Ich kann   … nicht bleiben» – die Stimme, obgleich schwach und undeutlich, war unverkennbar die von Vernon Raphael   –, «aber wollen wir nicht   … einander die Hände reichen   …» – mit jedem Wort wurde sie dünner – «als Zeichen der Freundschaft?»
    Die Schritte kamen näher; die Silhouette eines Mannes glitt zwischen mir und der Erscheinung vorbei. Licht blitzte auf; ein schimmernder Arm erschien, aber er war ohne Hand, nur ein leerer Ärmel, und als St John Vine den Arm zu fassen versuchte, ging seine Hand glatt hindurch! Mit einem Verzweiflungsschrei schlang er beide Arme um die Erscheinung. Für eine Sekunde waren Mann und Geist vereint; dann wurden sie von Dunkelheit umschlungen; mehr weiß ich nicht.
     
    ∗∗∗
     
    Ich kam mit dem Geschmack von Brandy auf den Lippen zu mir; eine Laterne blendete mich. In einem Kamin in der Nähe knackte Kohle. Ich lag auf dem Boden der Galerie, genau dort,wo ich gefallen war, nur lag mein Kopf auf einem Kissen. Ich hatte einen entsetzlichen Traum, dachte ich und wandte das Gesicht von dem Licht ab.
    «Miss Langton, ich bitte Sie inständig um Verzeihung; es tut mir wirklich sehr leid. Ich hätte Ihnen das nicht zumuten dürfen.»
    «Allerdings», sagte Edwin wütend. «Hätte ich gewusst, was Sie im Schilde führen, Raphael, hätte ich nie erlaubt   … also   …» Er unterbrach sich, verlegen, und gab mir einen weiteren Schluck Brandy.
    «Ich verstehe kein Wort», sagte ich zu Vernon Raphael. «Haben Sie mich hypnotisiert? Habe ich von dem Blitz nur geträumt?»
    «Nein, Miss Langton», antwortete er. «Alles ist genau so geschehen, wie Sie es gesehen haben – nur dass es eine Täuschung war, eine Demonstration, wenn Sie so wollen, arrangiert von Vine und mir. Ich hatte geplant, alles zu erklären, danach. Aber Sie müssen sich jetzt ausruhen. Es tut mir wirklich sehr leid.»
    «Nein», sagte ich, als ich mir meiner Verwirrung bewusst wurde. «Mir geht es schon wieder ganz gut, und ich könnte unmöglich ohne eine Erklärung schlafen.» Kerzen brannten entlang der Wände, aber am Boden war es nahezu dunkel. Ich fasste nach Edwins Arm und erhob mich auf meine wackeligen Beine.
    «Also, wenn Sie sich sicher sind», sagte Vernon Raphael mit offensichtlicher Erleichterung.
    «Wo sind die anderen?», fragte ich.
    «In der Bibliothek», sagte Edwin. «Ich dachte, es wäre dir vielleicht lieber   …»
    Dankbar für seinen Takt und für die Dunkelheit rundum, ordnete ich mein Haar und klopfte den Staub von meinem Umhang, während Vernon Raphael den Rest der Gruppe holte.
     
    ∗∗∗
     
    «Es ist nur allzu wahr, dass, wer eine Séance im Haus des Mediums besucht, die Täuschung sucht.»
    Vernon Raphael stand neben der Rüstung, wir standen im Halbkreis um ihn herum.
    «Als ich das erste Mal von diesem Kabinett hier hörte – letztlich ist es nichts anderes   –, wähnte ich einen weiteren Trick dahinter.»
    Er nahm das Heft des Schwerts – ich war nicht die Einzige aus der Gruppe, die zurückwich, als die Platten aufsprangen   –, während St John Vine, der an der Seite stand, den Schein seiner Laterne auf die Rüstung fallen ließ.
    «Der Rücken der Rüstung scheint vollkommen fest zu sein. Aber auch er lässt sich öffnen, allerdings nur, wenn die Vorderseite geschlossen ist, und nur, wenn sich diese Verriegelung», er wies auf den Schwertknauf unter der Faust der Rüstung – «in der richtigen Position befindet. So   …»
    Er stellte sich wieder hinein und schloss die Platten. St John Vine trat näher heran und schien dabei zu straucheln, sodass der Lichtkegel seiner Laterne über unsere Gesichter huschte.
    «Sehen Sie», sagte Vernon Raphael und erschien hinter der Rüstung, «es bedarf nur einer winzigen Ablenkung. Und wenn die Lichter erst auf geheimnisvolle Weise erlöschen   –» St John Vine war mit wenigen Schritten bei der Bibliothekstür und verschwand. Einige Sekunden später waren die Kerzen in den Leuchtern wieder erloschen, als hätte eine

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