Ruf ins Jenseits
gegen Mrs Bryant: Alles, was Magnus wusste oder nachprüfen konnte, alles das war wahr und sollte ihn verletzen, sollte ihm so zusetzen, dass er an allem Übrigen nicht zweifeln würde.
Clara war nie auf Wraxford gewesen. Jemand – das Dienstmädchen Lucy? – hatte sie in Sicherheit gebracht, während Nell alleine nach Wraxford kam. Das muss der gefährlichste Teil ihres Plans gewesen sein, das «Kind» – eine Puppe in Windeln vielleicht – vom Wagen in das Zimmer zu bringen. Kein Wunder, dass sie darauf bestanden hatte, alles selbst zu machen.
Aber warum? Was war der Sinn dieser Täuschung?
Den Anschein zu erwecken, dass der Fluch von Wraxford Hall erneut sein Opfer gefordert hatte, dass sie und Clara von den Mächten der Dunkelheit davongetragen worden waren. Sie hatte die letzte Visitation, die ihr Schicksal «vorhersah», erfunden.
Aber die Täuschung war missglückt. Magnus hatte das Tagebuch durchgesehen und sofort den Befehl zur Suche gegeben.
Hatte Nell denn bei all seinem professionellen Skeptizismus angenommen, dass er an Geister glaubte? Oder dass andere diese Geschichte glauben würden, selbst wenn er es nicht tat? Oder hatte Mrs Bryants Tod ihren Plan zerstört?
Und wie hatte sie fliehen wollen? Ohne Clara hätte sie zu Fuß davonkommen können. Und da sie das Tagebuch zurückgelassen hatte, damit Magnus es fände, hatte sie allen Grund zu fliehen, sobald es hell genug war, um ihren Weg durch den Mönchswald zu finden.
Was hatte Vernon Raphael über Magnus gesagt? «Er hatte schauspielerisches Talent.»
Nell war so sehr damit beschäftigt gewesen, diese Täuschung zu inszenieren, dass ihr verborgen geblieben war, wie das Tagebuchgegen sie verwendet werden konnte. Magnus’ Brief – den John Montague gefunden hatte, gerichtet an Mr Veitch –, auch der war falsch, wie der Fetzen von Nells Kleid, der in der Rüstung klemmte. Weder war Nell nach Wraxford Hall zurückgekehrt, noch war Magnus dort gestorben.
Aber wessen Asche hatte man dann in der Rüstung gefunden?
Jedenfalls nicht Nells. Der Arzt hatte bei der Gerichtsverhandlung ausgesagt, dass es sich um die sterblichen Überreste eines Mannes, etwa von Magnus’ Größe und Gewicht, handelte.
Um eine überzeugende Séance durchzuführen, braucht ein Medium einen Komplizen. Magnus sagte, dass Bolton den Generator betätigen würde. Aber die Maschine war nur ein Hilfsmittel. Und Magnus war sicherlich zu scharfsinnig, um Bolton zu trauen.
Nein, der Komplize musste jemand ganz anderes gewesen sein, jemand, den niemand gesehen hatte, der des Nachts ins Haus geschmuggelt worden war und der sich in einem der unzähligen Räume im oberen Stock versteckte, den niemand betreten durfte. Gut bezahlt, vielleicht wusste er nicht einmal, was hier gespielt wurde – und dazu verdammt, das Anwesen nicht bei lebendigem Leibe zu verlassen.
John Montague hatte etwas erwähnt … Ja, den Blitz, den Leute in Chalford glaubten Sonntagnacht über dem Mönchswald gesehen zu haben … Magnus hatte den Leichnam in der Rüstung verbrannt und dann einen «Blitz» erzeugt, so wie Vernon Raphael in dieser Nacht.
Vielleicht irrte ich mich mit dem Komplizen, und Magnus hatte die Asche mitgebracht. Er war ja Arzt. Auf alle Fälle hatte er sein Verschwinden bereits geplant.
Ich sah erneut Nells Tagebuch durch: all die Bemerkungen, dass er tage- oder wochenlang fort war. Magnus hatte die ganze Zeit ein Doppelleben geführt.
Und Nell musste, sobald sich die Nachricht von John Montagues grausiger Entdeckung verbreitete, gewusst haben, dass Magnus einer von denen sein konnte, die kommen würden, um sie wegen Mordes hängen zu sehen.
Meine Gedanken waren so schnell von einer Schlussfolgerung zur nächsten gesprungen, dass ich kaum hinterherkam. Weil Nell betonte, dass Clara nichts von Magnus hatte, und in der Vorstellung von Nell als meiner wahren Mutter in einer Welt von Halbwahrheiten, in der keine normalen Beziehungen bestanden, hatte ich diesen Gedanken beiseitegeschoben: Nun realisierte ich plötzlich mit schwindelerregendem Schrecken, dass ich Clara Wraxford sein
konnte.
Trotz der beiden Kerzen und des Feuerscheins waren die Schatten hinter den Möbeln – zwei staubige Sessel, eine Holzbank und allerlei andere Stühle und Vitrinen – sehr dunkel. Ich leuchtete mit der Laterne einmal das Zimmer ab, wodurch die halb abgelöste Tapete noch mehr Schatten warf, und die Decke voller Risse schien sich nach unten zu wölben, als der Lichtschein über
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