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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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sie wanderte. Wie lange würde das Öl wohl reichen?
    Widerwillig stand ich auf und löschte die beiden Kerzen. Ich musste nur die Stunden bis zum Tageslicht überstehen, sagte ich mir selbst, und morgen Abend wäre ich wohlbehalten zurück in St John’s Wood.
    Und dann? Angenommen Magnus
war
noch am Leben? Hatte ich nicht die Pflicht, bei der Polizei Bericht zu erstatten? Aber dort würde man schwerlich auf mich hören, genauso wenig wie Vernon Raphael, der alles so lange verdrehen würde, bis am Ende alle Indizien für Nells Schuld sprächen. Der einzig mögliche Weg, Nells Unschuld zu beweisen – wenigstens der einzige, den ich sehen konnte   –, war, Magnus Wraxford ausfindig zu machen. Er hatte vermutlich die Diamanten außer Landes gebracht, um sie dort zu verkaufen – was natürlich von Anfang an der Grund für deren Erwerb gewesen war. Wie so vieles in seinen Plänen hatten sie eine doppelteFunktion: sein Verschwinden zu erleichtern und die Stricke der Falle, die er für Nell gelegt hatte, enger zu ziehen, lange bevor Bolton sie und John Montague beobachtet hatte.
    Das war der Grund, kam mir in den Sinn, für Nells flüchtige Beschreibung ihrer Begegnung mit Montague. In dem Wissen, dass Magnus das Tagebuch lesen würde, hatte sie John Montague keine Schwierigkeiten – oder nicht mehr, als unbedingt nötig waren – bereiten wollen. Alle anderen – Magnus vielleicht eingeschlossen – lasen daraus, dass sie eine schuldhafte Liaison verbergen wollte.
    Magnus hatte sein Netz so geschickt gewebt, dass jedes Indiz doppeldeutig wurde. Edwin würde mir wenigstens bis zum Ende zuhören und Verschwiegenheit über Nells Tagebuch wahren, wenn ich ihn darum bäte. Aber selbst er, fürchtete ich, würde meiner Geschichte keinen Glauben schenken, wenn ich ihm keine greifbaren Beweise dafür aufzeigen konnte, dass Magnus nicht in der Rüstung starb.
    Es gab eine andere Möglichkeit. Magnus ausfindig zu machen war für mich ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber wenn ich ihn dazu bewegen könnte,
mich
ausfindig zu machen   … Wenn ich zum Beispiel verbreiten würde, dass ich Beweise für seine Schuld hätte, hier in Wraxford Hall gefunden   … Umso mehr, wenn die Gerüchte auch noch besagten, dass ich Clara Wraxford sei. Aber das war Wahnsinn, und ich würde darüber den Verstand verlieren. Ich drehte die Lampe so weit herunter, wie ich es noch ertragen konnte, und lag dann stundenlang wach, mit einer Angst, die mir durch Mark und Bein kroch, bis ich erschöpft einschlief. Ich erwachte halb erfroren in grauem Zwielicht.
     
    ∗∗∗
     
    Zwei Kutschen sollten um elf Uhr ankommen – die Kutscher hatten sich, so vermutete ich, geweigert, in Wraxford Hall zu übernachten – und uns wieder nach Woodbridge bringen. Miteisigem Wasser machte ich eine Katzenwäsche und blieb so lange wie möglich in meinem Zimmer, obwohl es, nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, dort nichts zu tun gab, außer zu zittern und zu grübeln. Allen Bemühungen, mich präsentabel zu machen, zum Trotz fühlte ich mich schmutzig und unordentlich, und der trübe Spiegel über dem Kamin trug nicht dazu bei, meine Laune zu heben.
    Hunger und Kälte trieben mich schließlich hinaus in die Düsternis des Treppenabsatzes und weiter zur Bibliothek, wo die anderen am Kamin bei einem Frühstück von Tee und Toastbrot saßen. Ich war befangen und versicherte allen, dass ich mich von meiner Ohnmacht erholt und sehr gut geschlafen hätte. Ich ließ mir einen Platz am Feuer zuweisen und mich von Edwin und Vernon Raphael, zwischen denen ich – zumindest von Edwins Seite aus – eine gewisse Feindseligkeit zu spüren vermeinte, bedienen.
    «Ich frage mich, Miss Langton», sagte Vernon Raphael, als ich gesättigt war, «was Sie von meiner Darstellung gestern Nacht hielten. Ich hatte den Eindruck, dass Sie nicht ganz überzeugt waren.»
    «Ich   … ich fand es sehr überzeugend, was Sie über Cornelius Wraxford sagten», erwiderte ich in der Hoffnung, dass er nicht weiterfragen würde.
    «Aber   …?», entgegnete er. Edwin warf ihm einen verärgerten Blick zu. Ich merkte, wie die anderen Männer auf meine Antwort warteten.
    Wenn ich hier nicht zu Nell stehen kann, dachte ich, werde ich nie den Mut haben, sie zu verteidigen.
    «Ich glaube, dass Eleanor Wraxford unschuldig war», sagte ich. «Ich glaube, dass Magnus all das, was gegen sie zu sprechen scheint, arrangiert hat – auch die Asche in der Rüstung. Ich glaube nicht, dass er tot ist.» Ein

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