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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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unterbrochen. Einen Moment standen wir lauschend da, das Geräusch wiederholte sich nicht. Edwin bückte sichnach dem Holzhammer und ging die zehn Schritte zur Tür. Ich wollte nicht allein bleiben und folgte ihm.
    Niemand war in der Bibliothek, und es gab keinen offenkundigen Grund für das Geräusch, bis ich sah, dass die Seiten von John Montagues Manuskript, das ich offen auf dem Ledersessel hatte liegen lassen, auf dem Boden verstreut waren wie auch Nells Tagebücher.
    «Vielleicht ein Luftzug», sagte Edwin. Aber die Luft war vollkommen still.
    Und noch etwas hatte sich geändert. Draußen, wo die Bäume nur fünfzig Meter entfernt standen, war rein gar nichts zu sehen, nichts außer dichtem, flauschigem Dunst, der an den Fenstern entlangglitt.
    «Wird der Kutscher uns finden?», flüsterte ich.
    «Ich weiß nicht, wir können nur hoffen, dass es vor Anbruch der Dunkelheit aufklart. Bis dahin können wir ebenso gut versuchen herauszufinden, wohin die Treppe führt.»
    Nach einem besorgten Blick in die Bibliothek ging er voran in die Galerie zurück. Als er gerade in die Öffnung treten wollte, erfasste mich Panik.
    «Was ist, wenn du dort eingeschlossen wirst?», sagte ich. «Ich weiß nicht, wie ich dir heraushelfen kann.»
    «Wir können nicht zu zweit gehen», sagte er. «Falls   …»
    «Dann werde ich gehen», sagte ich. «Wenigstens ein kleines Stück hinauf, während du Wache hältst. Ehrlich, es macht mir weniger Angst   …»
    Ich nahm ihm die Laterne aus der Hand und trat über die Schwelle in eine zylindrische Kammer, höchstens drei Fuß breit. Ich hob die Laterne, aber ich konnte nur die Spirale der Treppe sehen.
    «Ich muss ein paar Stufen hinaufgehen», sagte ich.
    «Sei um Gottes willen vorsichtig!»
    Indem ich jede Stufe prüfte, stieg ich unsicher und mit der Befürchtung, über mein Kleid zu stolpern, hinauf. Die modrigeLuft brannte in den Augen. Die Wände waren voller Spinnweben, aber selbst die wirkten alt und mürbe. Nichts bewegte sich, als ich meine Laterne hob. So, dachte ich, muss ein altes Grab riechen, ein Grab, das über Hunderte von Jahren verschlossen war und in dem selbst die Spinnen hungers gestorben sind.
    Ich hatte mindestens zwei Windungen der Treppe zurückgelegt, als die Stufen an einer niedrigen Holztür mit einem Brett endeten, so schmal, dass ich gerade noch darauf stehen konnte. Ein kurzes Schwindelgefühl erfasste mich, als ich nach unten blickte, und so fasste ich nach dem Türgriff, um nicht zu fallen. Die Klinke gab in meiner Hand nach, und mit einem Knarren öffnete sich die Tür.
    Es war ein Zimmer, oder eher eine Zelle, von etwa sechs mal vier Fuß, das Dach war nur wenige Zoll über meinem Kopf. Die Tür öffnete sich nach innen und ließ gerade genug Platz für einen Tisch und einen Stuhl, die an der gegenüberliegenden Wand standen. Auf der staubigen Tischplatte standen eine Karaffe, ein Weinglas, zwei Kerzenständer und ein Stifthalter, mit einem halben Dutzend Federkiele, alles von einer Schmutzschicht bedeckt. Außerdem gab es eine Vitrine mit zwei Regalböden, in der dreißig oder vierzig scheinbar identische Bücher standen.
    Das schien das gesamte Mobiliar zu sein, aber während ich dastand und auf den Tisch starrte, bemerkte ich, dass meine Laterne nicht die einzige Lichtquelle war. Entlang der Mauer zu meiner Rechten waren sechs schwache, schmale Lichtstreifen. Als ich schließlich etwas weiter in den Raum trat, spürte ich einen eisigen Luftzug. Ich begriff, dass das Geheimzimmer und das Treppenhaus quer über den Kamin gebaut waren und entlang der Außenmauer mit Spalten zur Belüftung versehen waren.
    Mit drei weiteren Schritten war das Bücherbord in Reichweite. Durch das verstaubte Glas sah ich, dass die Bände, alleohne Titel auf dem Buchrücken, wirklich identisch waren. Es handelte sich um ledergebundene Notizbücher, versehen mit einer Jahreszahl, durchgehend von 1828 bis 1866, und chronologisch geordnet. Ich stellte die Laterne auf dem Tisch ab, zerrte an der rechten Vitrinentür, bis diese mit einem Quietschen der Angeln nachgab, und nahm den letzten Band heraus.
    Es war ein Tagebuch, in einer krakeligen, zittrigen, aber doch lesbaren Handschrift geschrieben.
     
    5.   Januar 1866
     
    Der Herzog und die Herzogin von Norfolk fuhren heute Morgen ab; morgen sollen sie in Chatsworth ankommen. Die Herzogin machte mir das großartige Kompliment, dass die Gastlichkeit in Wraxford Hall alles übertrifft, was sie dieser Tage erlebt habe. Bis zur

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