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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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ständigen Schreckensnachrichten aus Whitechapel. Das verkürzte meine einsamen Spaziergänge; ich fühlte mich nicht mehr sicher außerhalb der Grenzen von St John’s Wood. Und dann, im Dezember, wurde Captain Tremenheere nach Aldershot versetzt, wohin er seine Familie mitnahm. Mein einundzwanzigster Geburtstag war vorbeigegangen, ohne dass ich eine neue Anstellung gefunden hätte, als ich eines Morgens beim Frühstück, ich las gerade gedankenlos die Familienanzeigen in der
Times,
auf die folgende Anzeige stieß:
     
    Wenn Constance Mary Langton, Tochter der verstorbenen Hester Jane Langton (geborene Price), vormals wohnhaft in der Great James Street, Holborn, sich mit den Notaren Montague und Venning in ihrem Büro in der Wentworth Road, Aldeburgh, in Verbindung setzt, könnte sie etwas für sie Vorteilhaftes erfahren.
     
    ∗∗∗
     
    Ich hatte geglaubt, dass alles in Mr   Montagues Antwortbrief aufgeklärt würde, aber sein Brief teilte mir lediglich mit, dass er «Beweise, wie sie sicherlich leicht erbracht werden können», dafür brauche, dass ich wirklich die fragliche Constance Mary Langton sei. Mein Onkel scherzte, während er einen Brief entsprechenden Inhalts aufsetzte, ich könnte natürlich einfach in das Haus in der Great James Street hineingegangen sein an dem Tag, als er mir seinen Besuch abstattete – eine Bemerkung, die mich mehr beunruhigte, als ihm klar war. Ich musste außerdemmein Geburtsdatum und meinen Geburtsort angeben – worauf ich nur schreiben konnte «bei Cambridge auf dem Land». Außerdem musste ich angeben, ob ich irgendwelche Schwestern «oder andere weibliche Verwandte» hätte, die noch lebten, worauf ich schrieb, dass ich meines Wissens keine solchen Verwandten hätte. Darauf erhielt ich die Antwort von Mr   Montague, dass er in den nächsten Tagen nach London käme und sich «in der betreffenden Angelegenheit» gerne mit mir träfe, wann immer es mir passte. Mein Onkel dachte aufgrund der Wortwahl der Anzeige, dass die Hinterlassenschaft von jemandem aus der Familie mütterlicherseits kommen musste, erläuterte das aber nicht weiter. Die Familiengeschichte hatte ihn nie sehr interessiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach, so warnte er mich, dürfte es sich um eine geringe Geldsumme handeln oder einige uralte Möbelstücke, die meiner Mutter von irgendeiner vergessenen Tante oder Cousine vererbt wurden. Aber all das hatte meine Kindheitsphantasien wieder aufleben lassen, es gäbe ein Geheimnis um meine Herkunft. Ich hatte das meinem Onkel gegenüber nie erwähnt und war heimlich erleichtert, als er es ablehnte, bei dem Treffen anwesend zu sein, mit dem Kommentar, dass das meine Angelegenheit sei, jetzt, wo ich volljährig war. Er konnte jederzeit aus seinem Atelier geholt werden, wenn er gebraucht würde.
    Mr   Montague kam an einem eisigen Januarmorgen. Ich stand am Fenster, als Dora ihn ins Wohnzimmer führte. Er hielt inne, als sich die Tür hinter ihm schloss, offensichtlich überrascht von etwas an meinem Aussehen. Er war groß und hager, ein bisschen gebeugt, mit grauem Haar und Geheimratsecken. Seine Gesichtszüge hatten etwas Leidendes oder Kränkliches, seine Haut hatte einen Stich ins Gräuliche, und er hatte beinahe schwarze Augenringe. Er konnte fünfzig, aber auch siebzig sein. Und doch wirkte er irgendwie zaghaft, fast besorgt, als ich ihm die Hand gab – die seine war eiskalt – und ihn bat, am Feuer Platz zu nehmen.
    «Ich frage mich, Miss Langton», begann er, «ob Ihnen wohl der Name Wraxford etwas sagt.» Seine Stimme war leise, geschmeidig und sonor.
    «Nein, gar nichts, Sir.»
    «Ich verstehe.»
    Er blickte mich für einen Moment stumm an und nickte dann, als würde er sich selbst etwas bestätigen.
    «Nun gut. Ich bin hier, Miss Langton, weil eine Klientin von mir, eine Miss Augusta Wraxford, vor einigen Monaten gestorben ist. Sie hinterließ den Großteil ihres Vermögens ihren ‹nächsten lebenden weiblichen Verwandten›. Und in der Annahme – verzeihen Sie   –, dass Sie wirklich Constance Mary Langton sind und die Enkelin, seitens Ihrer verstorbenen Mutter, von Maria Lovell und William Lloyd Price, sind Sie die Haupterbin in Augusta Wraxfords Testament und die einzige Erbin von Wraxford Hall.»
    Seine Stimme klang, als bereite er mich auf die Mitteilung eines großen Unglücks vor.
    «Das Gut besteht aus einem verfallenen Herrenhaus – sehr groß, aber ziemlich unbewohnbar – auf einem Waldstück von etlichen hundert Hektar in der Nähe
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