Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
Orchard House erhielt, das mich aufforderte, sofort zu kommen. Phoebes Niederkunft hatte vorzeitig begonnen und dauerte die ganze Nacht, während sie immer schwächer wurde, sodass nach einem Chirurgen geschickt wurde. Sie starb, und unser Sohn mit ihr, eine Stunde vor der Ankunft des Arztes.
    Unsinnig, über das Ausmaß an Trauer zu schreiben oder über die schreckliche Folgezeit, von der schnell berichtet ist. Ich blieb noch eine Woche nach ihrer Beerdigung in Orchard House, bis unser aller unausgesprochener Gedanke – hätte ich doch niemals die Schwelle dieses Hauses übertreten – zu qualvoll wurde. Fünf Monate später, im August desselben Jahres,ging Arthur in die Berge von Wales klettern. Dabei stürzte er zu Tode.
    Die Rückkehr nach Aylesbury zu seiner Beerdigung war das Härteste, was ich je erlebt hatte. Sinnlos, seinen Eltern zu sagen – so gezeichnet vom Leiden, dass sie kaum wiederzuerkennen waren   –, dass ich am liebsten meine rechte Hand abgehackt hätte, dass ich hätte sterben wollen. Es hätte weder Arthur noch Phoebe zurückgebracht, noch konnte es die Fragen beantworten, die wie Schwerter über unseren Köpfen hingen. Warum hatte Arthur, aus einer Laune heraus, seine Eltern in ihrer tiefen Trauer alleingelassen, um klettern zu gehen? Seine Kameraden schworen, dass er an einer Felswand abgerutscht war, aber ich konnte ihnen den Schatten meines eigenen Verdachtes ansehen: Ob Arthur nun beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen oder nicht, er hatte den tödlichen Aufstieg gemacht, ohne viel darauf zu geben, ob er lebendig oder tot zurückkehren werde.
    In der darauf folgenden langen Düsternis war der Gedanke, mir das Leben zu nehmen, immer zum Greifen nahe. Ich konnte mich nicht rasieren, ohne den Impuls zu verspüren, mir die Klinge durch die Kehle zu ziehen. Pistolen winkten von ihren Halterungen, Gift von Regalen, und immer war da der Klang des Meeres mit dem Bild, wie ich hinausschwamm in die eisige Weite, bis meine Kräfte schwinden und ich in den Wellen ertrinken würde. Aber der Gedanke, was ich damit meinem Vater antun würde – verfolgt von der Erinnerung an die gezeichneten Gesichter der Wilmots   –, hielt mich immer zurück. Das und, wie Hamlet sagt, «die Furcht vor etwas nach dem Tod»: Der Vers kam mir oft in den Sinn. Langsam wurde ich dessen gewahr, wie schwer der Anblick meines Kummers auf meinem Vater lastete. Aus schwarzer Nacht kam ich in graues Zwielicht. Ich nahm meinen Platz in der Kanzlei wieder ein und begann, eher unwillig, die Welt um mich herum wieder wahrzunehmen. Ich begann wieder zu malen, zuerstnur Bleistiftskizzen, bis ich auf der Suche nach neuen Motiven umherstreifte. Aber mein Leben, so glaubte ich zumindest, war vorbei, und es gingen weitere vier Jahre ins Land, bis etwas geschah, das diese schwermütige Überzeugung störte.
     
    ∗∗∗
     
    Vielleicht liegt es nur an dem unauslöschlichen Eindruck, den Peter Grimes’ Geschichte in
The Borough
hinterlässt, jedenfalls ist mir aufgefallen, dass viele Besucher die Gegend südlich von Aldeburgh irgendwie bedrückend oder gar unheilverkündend finden. Mich dagegen zog sie vielleicht gerade aus diesem Grund an. Das Burgverlies in Orford, vor allem wenn der Himmel tief hing, blieb ein beliebter Gegenstand meiner Bilder. Von Orford waren es nur noch drei Meilen über ein einsames Stück Marschland bis zum Rand des Mönchswalds. Man kann diesen Weg etliche Male gehen, ohne einem Menschen zu begegnen, begleitet nur von den Schreien der Seevögel und gelegentlichen Blicken auf das graue und unruhige Meer. Aufgrund der Landformation bleibt der Wald so lange versteckt, bis man einen sanften Hügel erklommen hat. Dann ist da nichts als eine dunkle Laubfläche. Ich genoss diese Aussicht an einem kühlen Nachmittag im Frühjahr 1864, fragte mich, ob die Hunde wirklich so wild waren, wie ich einst geglaubt hatte, als mir auffiel, dass ich jetzt ja einen guten Grund hatte, Wraxford einen Besuch abzustatten.
    Ich brachte meinen Vater dazu, Cornelius Wraxford zu schreiben – von dem wir im Übrigen seit mehreren Jahren nichts gehört hatten – und mich als neuen Mann in seiner Kanzlei vorzustellen, der um ein Gespräch bitte. Eine Woche später erhielt er die Antwort: Mr   Wraxford wäre willens, die geschäftliche Beziehung aufrechtzuerhalten, für ein Treffen sehe er allerdings keine Notwendigkeit. Für meinen Vater war die Angelegenheit damit erledigt. In mir aber war meine alteNeugier erwacht, und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher