Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
letzte Mal gesehen hatte. Haus und Grundstück wurden sorgfältig abgesucht. Vergeblich: Thomas Wraxford war wie vom Erdboden verschwunden, und nie wurde eine Spur von ihm gefunden.
    Man nahm gemeinhin an, dass der alte Mann seinen Verstand verloren hatte, dass er irgendwie im Nachtgewand das Haus verlassen hatte (es war eine klare Mondnacht), in den Mönchswald gegangen und irgendwo in eine Grube gefallen war. Vor Hunderten von Jahren hatte man in der Gegend Zinnminen errichtet, und einige dieser alten Anlagen waren noch erhalten. Verdeckt von herabgefallenem und verrottendem Laub, waren sie Fallen für die Unvorsichtigen. Ein Jahr und einen Tag nach Thomas’ Verschwinden stellte Cornelius Wraxford, der Neffe und einzige Erbe, beim Grafschaftsgericht den Antrag auf die Bestätigung von Thomas Wraxfords Tod, dem bereitwillig stattgegeben wurde. Und so gab Cornelius, ein zurückgezogen lebender, unverheirateter Gelehrter, seine Position an der Universität in Cambridge auf und nahm das Herrenhaus in Besitz. Das war alles, was mein Vater mir sagen konnte, abgesehen davon, dass Cornelius über die Jahre hin alles Land verkauft hatte, von dem das Anwesen einst seinen Unterhalt bezogen hatte, außer dem Mönchswald und Wraxford.
     
    Als kleiner Junge machte ich mit meinen Spielkameraden immer wieder Pläne, auf welchen Wegen durch den Wald wir die Hunde umgehen und Wraxford durch einen Geheimgang erreichen könnten, der angeblich von dem Herrenhaus in eine ungenutzte Kapelle in den nahegelegenen Wäldern führte. Wir alle hatten den Wald nur aus der Ferne gesehen, und so waren unserer Phantasie keine Grenzen gesetzt. Die Schreckensszenarien, die wir uns ausmalten, durchspukten meineTräume noch Jahre später. Unsere Pläne wurden natürlich nie in die Tat umgesetzt. Ich wurde fortgeschickt zur Schule, wo ich den üblichen Brutalitäten ausgesetzt war, bis mich der Schock über den Tod meiner lieben Mutter für einige Zeit gegen die geringeren Qualen abstumpfen ließ.
    Es muss zu dieser Zeit gewesen sein, dass ich mich ins Malen und Zeichnen flüchtete, wofür ich eine Begabung hatte, obgleich ich es niemals sonderlich ernst genommen oder je eine Anleitung erhalten hatte. Meine Stärke waren Naturszenen – je wilder, desto besser   –, Häuser, Schlösser und vor allem Ruinen. Etwas in mir strebte nach Licht, das aber nichts mit meinem Schicksal zu tun zu haben schien, welches mir ein Jurastudium am Corpus Christi College, dem alten College meines Vaters in Cambridge, bestimmte. Dies tat ich gehorsam; und dort traf ich im zweiten Studienjahr einen jungen Mann namens Arthur Wilmot. Er studierte Altphilologie, aber seine wahre Leidenschaft war das Malen, und dank seiner entdeckte ich eine neue, mir gänzlich unbekannte Welt. Mit ihm zusammen sah ich in London erstmals Turners Gemälde. Endlich wurden mir die Verse von Keats über den tapferen Cortez, der seinen Blick über den Ozean schweifen lässt, verständlich. Drei Wochen lang malten und zeichneten wir in unserem Urlaub in den Highlands, und dank Arthurs Ermutigung begann ich zu glauben, dass meine Zukunft eher in einem Atelier als in einer Anwaltskanzlei liegen könnte.
    Arthur war etwa so groß wie ich, eher schmächtig, und hatte eine helle, empfindliche Haut und feine Gesichtszüge. Aber der Eindruck von Zartheit trog, wie ich an unserem ersten Tag in Schottland feststellte, als er einen steilen Hang blitzschnell mit der Geschicklichkeit einer Ziege erklomm, während ich keuchend in seinen Fußstapfen folgte. Er sprach ziemlich viel von Orchard House – seinen Schilderungen nach ein perfektes Arkadien – unweit von Aylesbury, wo sein Vater, ein Geistlicher, lebte. Und er erzählte vor allem von seiner SchwesterPhoebe, die ihm offensichtlich sehr wichtig war: Er machte sich Sorgen, wenn er mehr als ein oder zwei Tage keinen Brief von ihr erhielt. Am Ende unserer Fahrt war es beschlossene Sache, dass ich nicht nach Aldeburgh zurückkehren, sondern mit ihm nach Hause fahren und zumindest vierzehn Tage bleiben würde. Ich hatte keine Geschwister – meine Mutter war nach meiner Geburt sehr krank gewesen   –, und ich wusste, dass mein Vater sich darauf freute, mich wieder um sich zu haben. Aber ich wollte Arthur nicht enttäuschen, so jedenfalls rechtfertigte ich mich vor mir selbst.
    Orchard House übertraf all meine Erwartungen: ein weitläufiges Haus mit Reetdach und strahlend weiß getünchten Mauern, das – wie sein Name andeutete – inmitten von Apfel-
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher