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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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später geschah, zu trennen. Ich war zugleich von Angst und gespannter Erwartung erfüllt; die gewohnte Melancholie zerstob wie Rauch im Wind. Das Haus schien im Licht des Nachmittags übernatürlich lebendig, als wäre ich aus der Welt des Wachens direkt in einen Traum getreten, in den ich bedingungslos und ausschließlich gehörte. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm der riesigen Eiche und packte meinen Block und meinen Farbkasten aus, um das letzte Tageslicht so gut wie möglich zu nutzen.
    Eine Stunde verging, ohne dass es ein Lebenszeichen gegeben hätte. Ich fragte mich, ob die Hunde nichts als ein Hirngespinst meines Freundes waren. Vielleicht war Cornelius selbst gestorben – aber nein, seinen Brief hatten wir erst letzte Woche erhalten   –, doch was wussten wir schon von seinem Tun und Lassen? Er konnte das Haus abgeschlossen haben und fortgegangen sein, gleich nachdem er uns geschrieben hatte. Vielleicht gab es auch einen weiteren, bescheideneren Wohnsitz in einem anderen Teil des Waldes   … Langsam senkte sich die Dämmerung, bis ich die Farben nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Ich legte meine Utensilien beiseite und aß den mitgebrachten Proviant, während die Umrisse der Dachgiebel, die Schornsteine und die geisterhaft wirkenden Blitzableiter-Speere mit dem letzten Abendlicht dahinschwanden, bis das Haus nur mehr eine dunkle Masse vor der Schwärze des Waldes war.
    Ein blasses Leuchten durch das Laub hinter mir bekundete den Mond. Sollte das Mondlicht meine Blätter beleuchten, so würde ich unter freiem Himmel malen müssen. In der Überzeugung, dass das Anwesen verlassen war, nahm ich meine Sachen und begab mich vorsichtig ins Sternenlicht. Etwa dreißig Meter vom Haus entfernt stolperte ich über die Überreste einer kleinen Steinmauer, auf der ich mich mit Stiften und Block niederließ. Die Luft war still und kalt; irgendwo in der Ferne hörte ich einen Fuchs, aber aus der Dunkelheit erhob sich kein Gebell zur Antwort.
    Von Minute zu Minute wurde die Lichtung heller. Das Herrenhaus schob sich förmlich Zoll für Zoll aus der Dunkelheit heraus. Als der Mond höher stieg, war es, als veränderten sich die Ausmaße des Hauses, bis es sich über mir auftürmte wie ein schwarzes Nichts. Ich griff zu meinem Block, und als ich mich aufrichtete, sah ich in dem Fenster unmittelbar über dem Eingang ein Licht angehen. Ein flackernder, gelber Schein, der sich von einem Fenster zum nächsten nach links herüber zu bewegen begann, bis er am letzten innehielt, dann langsam umkehrte und etwa in der Mitte des Hauses innehielt und dort verharrte.
    Alle Schreckensvorstellungen meiner Kindheit erwachten bei diesem Anblick, und doch sah ich in diesem unheimlichen Geschehen die Vollendung meines Bildes. Mir wurde klar, dass ich, wenn es mir gelänge, meine Angst lange genug zu unterdrücken, um die Szene in Erinnerung behalten zu können, zu einer Sicht kommen konnte, die wirklich meine eigene wäre. Ich begann fieberhaft zu arbeiten, selbst als ich eine Gänsehaut bekam in der Erwartung eines bösartigen Gesichts, das sich hinter dem Glas hoch oben erheben würde, oder eines Schreis – oder Schusses   –, der bekunden würde, dass man mich entdeckt hatte. Das Licht brannte ruhig, ab und an flackerte es, als sei jemand nahe daran vorbeigegangen. Das ist der alte Cornelius, sagte ich mir, der in seinem Reich umhergeht. Solange seine Lampe brennt, wird er mich nicht sehen. Als wäre ich in zweiPersonen gespalten, saß ich da: Die eine Person entsetzt über die eigene Narretei und mit dem sehnlichen Wunsch, aus ihr entlassen zu werden, die andere, der alles gleichgültig war außer der Aufgabe, die es zu meistern galt.
     
    Etwa um Mitternacht, der Mond hatte seinen höchsten Stand erreicht, hatte ich alles mir Mögliche getan. Das Licht im Fenster brannte noch immer. Ich sammelte meine Siebensachen ein und zog mich in den Schatten der Bäume zurück. Ich hatte eine Laterne mitgebracht, aber sie anzuzünden hätte bedeutet, meine Gegenwart im Mönchswald zu offenbaren. Nachdem ich einige hundert Meter durch die Dunkelheit gestolpert war, wickelte ich mich in meinen Paletot und kauerte mich etwas abseits des Weges, am Fuß einer weiteren riesigen Eiche, zusammen. Dort lag ich und lauschte auf das Knistern und Rascheln in dem Dickicht um mich herum, auf die gelegentlichen Schreie einer Eule. Immer wieder döste ich ein, träumte schlecht und erwachte schließlich im Morgengrauen.
    Die nächsten
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