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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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begann, Erkundigungen einzuziehen. Ein Freund von mir war ein Wilddieb – ein Mann, den ich einmal auf frischer Tat ertappt hatte, als ich frühmorgens zum Zeichnen unterwegs gewesen war, und den ich nicht verraten hatte. In einer stillen Ecke des Schankraums im White Lion erfuhr ich von ihm, dass die Außenmauer so weit eingefallen war, dass die wenigen verbliebenen Hunde nun bei den alten Ställen in der Nähe des Hauses an der Kette lagen. Der Wächter – der vor allem als Stallbursche und Kutscher arbeitete – hatte sich dem Trinken ergeben und wagte sich nachts nur selten hinaus, so hatte jedenfalls mein Freund gehört. Die Wilderer, so berichtete er, machten nach wie vor einen weiten Bogen um Wraxford, insbesondere nach Einbruch der Dunkelheit.
    Es war in dieser Nacht schon beinahe Vollmond, und nachdem ich den White Lion verlassen hatte, stand ich lange am Strand und betrachtete das Spiel des Lichts auf dem Wasser. Ich hatte geglaubt, dass ich nie wieder das Rauschen der Wellen über Kieselsteinen würde hören können, ohne von Kummer und Reue überwältigt zu werden. Aber die Zeit hatte den Schmerz gemildert, und die Verse, die mir in den Sinn kamen, waren nicht «Brich, brich, brich   …», sondern «Gern ruhn Schwerter in der Scheide, so das Herz auch in der Brust». Es war eine milde, klare Nacht, und mir kam in den Sinn, dass es eine interessante Übung wäre, das Anwesen im Mondlicht zu zeichnen. Geschäftlich war nicht viel zu tun, und mein Vater gab mir gerne zum Zeichnen frei, sodass ich mich am nächsten Tag auf den Weg machte.
    So stand ich am frühen Nachmittag abermals auf der Hügelkuppe und blickte auf den Mönchswald. Von dort schlug ich den Weg Richtung Norden ein, am Waldrand entlang, bis ich zu einer ausgetretenen Spur kam und in das Dickicht der Bäume eintauchte. Wenige Minuten später ging ich zwischen halbverfallenen Säulen, die die Grenze des Anwesens markierten, hindurch. Der einstige Eichenwald war nun weitgehendvon Tannen bestimmt, die dicht standen und wenig Licht durchließen. Als ich tiefer in den Wald kam, bemerkte ich, dass das übliche Vogelgezwitscher auf eigentümliche Weise gedämpft schien, und wenn Wild unterwegs war, so hielt es sich gut verborgen. Die Überzeugung, dass ich einen falschen Weg eingeschlagen hatte, wuchs in mir, als der Pfad plötzlich einen Bogen um den Stamm einer gigantischen Eiche machte und auf eine mit hohem Gras und Disteln bewachsene Fläche führte, die einst eine Wiese gewesen sein musste. Am anderen Ende dieser Lichtung stand ein großes Herrenhaus in elisabethanischem Stil. Die Wände waren von dunklem Fachwerk und mit trübem Grün gesprenkelt, und es hatte etliche Giebel. Die Sonne verschwand bereits hinter den Baumwipfeln zu meiner Linken.
    Der Pfad führte weiter durch die Wildnis auf den Haupteingang zu, mit einem Abzweig, der links zu einem heruntergekommenen Häuschen führte, vielleicht die Behausung des Verwalters. Hinter dem Häuschen, halb versteckt von Bäumen, stand eine Reihe baufälliger Nebengebäude. Ein Stück weiter waren Stücke eines Mauerwerks zu sehen und ein steil abfallendes Dach, vermutlich die Kapelle. Zu Wraxford Hall, hatte mein Vater mir erzählt, gehörte einst ein Park von etlichen Hektar, aber der Wald hatte alles verschlungen, außer dem Haus und seiner unmittelbaren Umgebung. Nirgends gab es Zeichen von Leben, alles war stumm und still.
    Ich wandte mich dem Haupthaus zu. Die Zeichen der Vernachlässigung waren schon aus der Entfernung sichtbar: das Fachwerk abgesackt, Risse im Putz, und eine Überfülle an Brennnesseln und jungen Bäumen wuchs an verschiedenen Stellen an der Mauer hoch. Außer einer Reihe hoher Fenster – offensichtlich ein späterer Umbau – im ersten Stock, der mindestens dreißig Fuß über dem Boden zu liegen schien, waren alle Läden geschlossen. Das mussten die Fenster des Saals mit der Galerie gewesen sein, von der der Junge Felix Wraxfordvor siebzig Jahren gestürzt war. Die Läden im zweiten Stock waren deutlich kleiner. Über diesen ragten die Dachkammern hervor, jede mit einem eigenen Giebel und von anderer Höhe. Gegen den hellen Himmel hob sich die Silhouette von einem Dutzend Schornsteinen ab, und aus diesen stachen so etwas wie schwarze Speere hervor, die sich gegen den Himmel richteten. Das waren Blitzableiter; meine erste Begegnung mit einer merkwürdigen Besessenheit der Familie Wraxford.
     
    Es fällt mir schwer, meine ersten Eindrücke von dem Wissen um das, was
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