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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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fünf Tage verließ ich mein Atelier so gut wie nicht. Ich vernachlässigte meinen Vater schmählich, aber das Bild ließ mir keine Ruhe. Wann immer ich mich hinlegte, um wenigstens einige Stunden zu schlafen, erschien es lockend und insistierend vor meinem inneren Auge. Ich arbeitete mit ungekannter Sicherheit, ja, war geradezu von ihr besessen. Ohne Unterlass stieß ich an die Grenzen meiner Technik, und doch – geleitet von einer so überzeugenden Vorstellung – schien diese Sicherheit meine Grenzen beinahe in eine Tugend zu verkehren. Bis zu dem Morgen, an dem ich meine Palette zum letzten Mal beiseitelegte, einen Schritt zurücktrat und mich dem Bild eines Malers, weit begabter als ich, gegenübersah. Es war eine Szenerie voller Melancholie, unheimlich und schön. Versunken für einen langen Augenblick in die Betrachtung, fühlte ich mich wie der Gott der Schöpfung. Ich sah meine Arbeit und wusste, dass sie gut war.
     
    Mein Vater, obgleich er das Bild bewunderte, war vor allem besorgt, dass ich wegen Landfriedensbruchs inhaftiert werden könnte, und nötigte mir das Versprechen ab, das Anwesen von Wraxford nie wieder unerlaubt zu betreten. Bereitwillig erklärte ich mein Einverständnis, glaubte ich doch, mein neu entdecktes Talent an jedem beliebigen Motiv erproben zu können. Aber meine nächste Skizze von dem Burgverlies in Orford war deutlich weniger geglückt als ihre Vorgängerin, wie auch meine Versuche etlicher anderer Lieblingsszenerien. Etwas war verloren, etwas, dessen Abwesenheit ich spürte wie einen gezogenen Zahn, das zu bestimmen jedoch völlig unmöglich war. Ein mysteriöses Zusammenspiel von Hand und Auge, ein Können, von dem ich nicht gewusst hatte, dass ich es besaß. Während ich einst einfach gemalt hatte, war nun alles Arbeit, erschien bemüht und unnatürlich. Und je mehr ich gegen dieses geheimnisvolle Hindernis ankämpfte, umso schlechter war das Ergebnis. Ich erwog, zu Wraxford Hall zurückzukehren. Aber unabhängig von meinem Versprechen hielt mich eine abergläubische Angst davon ab. Ich fürchtete, dass bei einem Versuch, meinen Erfolg zu wiederholen, «Wraxford Hall im Mondschein» sich irgendwie   … na ja, nicht wirklich vor meinen Augen auflösen, aber sich als mittelmäßig und abgeschmackt erweisen würde. Vielleicht machte ich mir etwas vor. Der Gedanke war mir oft gekommen, zumal ich das Bild nie einem Experten vorgelegt hatte. Aus Angst, meinen Vater zu beunruhigen, konnte ich das nicht. Und doch bestand mein Herz darauf, dass ich etwas Bemerkenswertes geschaffen hatte, auch wenn es um einen Preis geschehen war, den ich lieber nicht gezahlt hätte.
    Im Oktober des folgenden Jahres brachte meines Vaters plötzlicher Tod durch einen Schlaganfall eine grundlegende Veränderung. Nun wäre ich frei gewesen, mich ganz dem Malen hinzugeben, wenn nicht mein Talent mich verlassen hätte. Auch schien es mir ein Verrat an dem Andenken meines Vaters, an seinem Vertrauen. Unsere Klienten erwarteten, dass ich dieKanzlei weiterführen würde, Joshia, unser ältester Angestellter, erwartete es; und so machte ich weiter, «fürs Erste», wie ich mir immer wieder sagte, ohne zu wissen, ob es mein Gewissen oder meine Feigheit war, was mich hielt. Nur das Bild «Wraxford Hall im Mondschein» hängte ich – ein Akt des Trotzes – in meinem Büro auf (ich sagte jedem, der danach fragte, es wäre nach einer alten Radierung gemalt worden). Dort hing es auch an dem Nachmittag, als ich Magnus Wraxford erstmals begegnete.
     
    ∗∗∗
     
    Ich hatte eine Nachricht von ihm erhalten, dass er mich sehr gerne sprechen würde, ohne einen Hinweis auf den Anlass. Aus meines Vaters Unterlagen über Wraxford wusste ich, dass Magnus der Sohn von Cornelius’ jüngerem, 1857 verstorbenem Bruder Thaddeus war. Cornelius hatte 1858 ein neues Testament geschrieben, in dem er das gesamte Anwesen seinem «Neffen Magnus Wraxford von Munster Square, Regent’s Park, London» vermachte. Aus Neugier hatte ich einem Bekannten in London geschrieben, ob ihm der Name etwas sage. «Zufällig ja», schrieb er. «Er ist Mediziner – er studierte in Paris, glaube ich; er macht Hypnose, der – wie Du weißt – viele angesehene Ärzte mit großem Misstrauen begegnen. Er behauptet, mittels Hypnose unter anderem Herzkrankheiten heilen zu können. Es scheint, als könnten seine Patientinnen und Patienten, vor allem die Frauen, wahre Lobeshymnen auf ihn singen. Es heißt, er sei persönlich sehr charmant, aber nicht
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