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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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dunklen Wald stolpert, blieb mir lebhaft im Sinn, lange nachdem der Mönchswald außer Sichtweite war.
     
    Etwa eine Stunde später erblickten wir das Burgverlies von Orford, ein massiges Backsteingebäude mit allerlei Türmen und Zinnen. Umgeben von einigen wenigen Häusern, die weitgehend verlassen schienen, stand es auf einem hohen Hügel. Kurz vor der Burg bemerkte ich eine Staffelei, auf der ein Gemälde stand. Von dem Künstler war weit und breit keine Spur zu sehen, vermutlich hatte er sich in eines der Häuser zurückgezogen. Unwillkürlich betrachtete ich das Bild genauer.
    Wie erwartet handelte es sich um eine Studie des Burgverlieses, allerdings in Öl, kein Aquarell. Es erinnerte mich an einen Ort, den ich kannte, aber nicht sofort zu identifizieren wusste. Der Künstler hatte den Turm zum Gegenstand seines Gemäldes gewählt, der sich vorzuneigen schien. Aber da gab esnoch etwas, etwas Bedrohliches, fast wie eine heraufziehende Gefahr. Die Fenster, die unterhalb der Zinnen paarweise eng beieinanderstanden, erinnerten an Augen   … das war es: Es war wie das Haus in meinem Traum, wachsam, lebendig, lauschend   …
    «Das – hm – ist beeindruckend», sagte George, als er zu mir trat.
    «Sehr unheimlich», meinte Ada.
    «Ich finde es wunderbar», sagte ich.
    «Das freut mich», sagte eine Stimme, die aus der Erde hinter mir zu kommen schien. Ich drehte mich um, als eine Gestalt sich aus dem langen Gras, wenige Fuß entfernt, erhob: ein Mann – ein junger Mann – schlank, nicht sonderlich groß, der Tweedhosen trug, ziemlich bekleckst mit Farbe.
    «Ich wollte Sie nicht erschrecken», sagte er und wischte Grassamen von seiner Kleidung. «Ich war eingeschlafen, und Ihre Stimmen mischten sich in meinen Traum. Edward Ravenscroft. Sehr erfreut.»
    Wie das Bild erinnerte auch er mich an jemanden, aber ich konnte mich nicht entsinnen, wann und wo ich ihn schon einmal gesehen hatte, und mit Sicherheit hatte ich den Namen noch nie gehört. Er sah gut aus, sein dunkelbraunes Haar hing ihm in die Stirn, die helle Haut war ein bisschen rau und von der Sonne gerötet. Seine Augen waren dunkelbraun und er hatte eine vollkommen gerade, lange Nase. Er hatte ein sehr ansprechendes Lächeln.
    «Wir haben uns zu entschuldigen», sagte ich, sobald George uns vorgestellt hatte, «für unser Vordringen – zu Ihrem Bild und in Ihren Traum.»
    «Keineswegs – es war ein erfreuliches Aufwachen», entgegnete er und lächelte mich immer noch an. «Sie meinen also, es ist fertig?»
    «O ja, es ist vollkommen. Es erinnert mich an einen Traum, den ich früher hatte – einen Albtraum, wie ich zugeben muss.»
    «Danke! – Wobei ich nicht Ihren Schlaf stören will. Das gehört zum Schwersten: zu wissen, wann man aufhören muss. Vor einer Stunde habe ich die Palette sauber gemacht, aus Angst, ich könnte es verderben.»
    Wir standen noch eine Weile beisammen. Wie sich herausstellte, befand er sich auf einer Rundwanderung durch das Gebiet und zeichnete und malte auf seinem Weg. Von Beruf war er Künstler und lebte derzeit von kleinen Aufträgen, meist Bilder von Häusern auf dem Lande. Er war Junggeselle; sein Vater lebte als Witwer in Cumbria. Die letzten Tage war er in einer Herberge in der Nähe von Aldeburgh untergekommen, von wo er Tagesausflüge entlang der Küste unternahm.
    Mir war klar, dass ich Edward Ravenscroft gerne näher kennenlernen würde, und so begann ich, Chalford in den höchsten Tönen zu loben, in der Hoffnung, er würde uns dort besuchen kommen. In der Tat klangen meine Schilderungen so verlockend für ihn, dass er fragte, ob er mit uns kommen könne, er wolle im Ship absteigen, während er die Gegend dort erkunden würde. George hatte mittlerweile die Straße ausgemacht, auf der wir hätten herkommen sollen, und so führte unser Rückweg weit am Mönchswald vorbei. Es bedurfte nur eines beredten Blickwechsels mit Ada, und Edward wurde lange vor Roman Kiln Field eingeladen, einige Tage im Pfarrhaus zu Gast zu sein.
     
    ∗∗∗
     
    Edwards wenige Tage wurden zu einer Woche, die wir – so scheint es mir im Rückblick – ununterbrochen zusammen waren, jeden Tag machten wir stundenlange Spaziergänge oder unterhielten uns im «Garten». Abgesehen von seinem künstlerischen Talent war er nicht besonders gebildet oder belesen, auch interessierte er sich nicht sonderlich für Religion oder Philosophie. Aber er war schön, eine Beschreibung, die mirsofort in den Sinn gekommen war, eher als «er sah gut aus»

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