Ruf ins Jenseits
ist voller Rost und verläuft in dunkler Verfärbung die Mauer hinab. Als ich das Herrenhaus gestern zuerst sah, dachte ich, es wäre in einem trüben Grün gestrichen, aber die Mauern sind von Flechten und Moos bedeckt und voller Risse; der Boden davor ist vom abbröckelnden Verputz übersät. In dem Wissen, dass Bolton mich beobachtete, auch wenn ich weit und breit keinen Menschen sehen konnte, war ich fest entschlossen, nicht zu weinen.
Hätte Edward mich nicht getroffen, dann würde er heute noch leben. So quälte ich mich selbst. Zugleich dachte ich: Hätte er sein Versprechen gehalten und wäre nie hierhergekommen, dann wären wir jetzt verheiratet, und Clara wäre sein Kind. (Ich habe das gedankenlos niedergeschrieben. Tatsächlich begleitet mich dieser Gedanke: Ich habe nie einen Zug von Magnus in ihrem Gesicht gesehen, während ich oftdenke, sie habe Edwards Augen – dieselben Schattierungen von Brauntönen.) Ich will nicht –
darf
nicht – glauben, dass es ihm bestimmt war zu sterben – oder dass Clara und ich dazu bestimmt sind, nach dieser letzten Visitation. Vielleicht war es verrückt, sie hierherzubringen – aber was hätte ich sonst tun sollen? Wenn ich sie bei einer mir unbekannten Amme am Munster Square gelassen hätte und ihr etwas zustieße … nein, ich konnte es nicht.
Warum
hat er es getan? War es bloße Neugier – wollte er sehen, was in der Galerie ist? War da ein Licht, wo kein Licht hätte sein sollen? Oder war er vor etwas auf der Flucht? Der Wald ist so dunkel, selbst bei Tageslicht. Im Mondschein dürfte es ein Leichtes sein, sich allerlei Schrecken vorzustellen – so wie ich immer wieder meine, Schritte im Korridor über mir zu hören. Aber wenn ich die Feder niederlege und lausche, dann höre ich nichts als das Klopfen meines Herzens.
∗∗∗
Donnerstagabend
Mr Montague kam heute Nachmittag vorbei. Ich dachte zuerst, Magnus habe ihn geschickt, um mich auszuspionieren, aber er sagte, er hätte mich sehen wollen. Ich hatte Clara gerade schlafen gelegt, und ehe wir unten im Dunkeln stünden (wo Bolton irgendwo im Schatten lauschen konnte), schlug ich vor, dass wir uns draußen hinsetzten, unterhalb ihres Fensters, wo ich hören würde, wenn Clara weinte. Er hat deutlich abgenommen, seit ich ihn das letzte Mal sah, und er hat einige graue Haare bekommen.
Er erzählte mir, dass Magnus ihn eingeladen habe, an der Séance teilzunehmen, die diesen Samstagabend stattfinden wird. Er war besorgt, als er erfuhr, dass ich nichts davon wusste. Erund Magnus scheinen einander nicht mehr so nahe zu sein: Die Einladung kam per Post, und Mrs Bryant und Doktor Rhys wurden nicht erwähnt. Aber er sprach warm von Edward und gestand, dass seine scheinbare Abneigung gegen ihn aus Neid entstanden war – seiner Jugend, seines Talents wegen und weil er gut aussah, und so hatte ich ihm gegenüber ein freundlicheres Gefühl. Ihm ist die Séance offensichtlich unangenehm – wem wäre sie das nicht? Ich glaube, er ist ein ehrlicher und gewissenhafter Mann, und mir ist etwas weniger bang, seit ich weiß, dass er da sein wird.
Während unseres Gespräches waren im Haus keine Geräusche zu hören, aber mir war die Reihe von Fenstern, die auf uns förmlich herunterblickte, die ganze Zeit allzu bewusst. Als er über das Gras davonging, fiel mir die Bewegung eines Schattens bei dem alten Kutschenhaus ins Auge. Es war Bolton, der vom Eingang her alles beobachtete. Als er bemerkte, dass ich ihn gesehen hatte, verschwand er hinter der Mauer.
Freitag – etwa neun Uhr abends
Mrs Bryant kam gegen drei Uhr heute Nachmittag an; Magnus eskortierte sie auf einem Pferd. Vom Fenster ihres Zimmers aus hatte ich sie lange genug beobachtet, um sehen zu können, wer sie begleitete. Außer Doktor Rhys waren das nur ihre beiden Dienstmädchen und ein Kutscher. Ihre Dienstmädchen werden sich ein kleines Zimmer teilen, dem riesigen Gemach gegenüber, das für sie hergerichtet worden ist. Doktor Rhys wird das Zimmer am Anfang des Korridors haben, sodass auch er gegebenenfalls sofort gerufen werden kann.
Ich hatte vorgehabt, in meinem Zimmer zu bleiben, bis Magnus mich rufen würde, und wartete drei lange Stunden mit klopfendem Herzen, sobald ich Schritte im Gang hörte. Aber es klopfte niemand. Clara erwachte, sie war weinerlich, wasmich wenigstens ablenkte. Gegen sechs klopfte es an meine Tür, aber es war nur Carrie mit der Mitteilung, dass der «Herr» mich bitten lasse, unseren Gästen in der
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