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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harwood
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alten Galerie um halb acht Gesellschaft zu leisten; das Essen werde um halb neun serviert. So hielt ich weiter meine angstvolle Wache, während das Licht über den Wipfeln vor meinem Fenster dahinschwand. Sicher, dachte ich, würde Magnus kommen, um mir Anweisungen zu geben, wie ich mich am besten verhielte, aber er erschien nicht. Um sieben war Clara immer noch wach, und mir blieb nur, ihr einen Löffel Gofreys Sirup zu geben. Ich wusste nicht, wie lange ich fort sein würde.
    Carrie kam um Viertel vor sieben, um mir beim Ankleiden zu helfen. Es bedurfte keiner großen Hilfe, denn ich trug absichtlich dasselbe graue Gewand ohne Korsett und Reifrock, das ich bei unserem Besuch bei Mrs   Bryant vor einem Monat getragen hatte. Als es halb acht Uhr schlug, war das letzte Abendlicht verschwunden.
    Bis zu diesem Abend war der Korridor vor meinem Zimmer stockdunkel gewesen. Nun waren die Kerzen in den Wandhaltern angezündet. Allerdings war das Glas der Leuchter so verrußt, dass sie nur ein schwaches Licht abgaben. Die Luft war muffig und dumpf. Auf meinem Weg durch das Dunkel zum Treppenabsatz war ich darauf gefasst, dass mich Magnus jeden Augenblick mit einem Lächeln erwarten würde. Die Flügeltüren zur Galerie standen offen.
    Die Wände bildeten eine Flucht von flackernden Kerzenflammen. In den hohen Fenstern spiegelte sich ein kalter Schimmer; die Decke darüber lag im Dunkeln. Inmitten der Galerie, vielleicht zwanzig Fuß von mir entfernt, brannten Kerzen auf einem kleinen, runden Tisch und erhellten die Gesichter von Magnus, Mrs   Bryant und Doktor Rhys, die über den Flammen in der Luft zu hängen schienen.
    «Da bist du ja, Liebling», sagte Magnus, als hätte er mich vor fünf Minuten, nicht vor mehreren Tagen, zuletzt gesehen. Ichging zögernd auf den Tisch zu. Mrs   Bryant, eine strahlende Erscheinung in purpurroter Seide, die viel von ihren weißen Brüsten sehen ließ, begrüßte mich mit Verachtung; Godwin Rhys verbeugte sich ungeschickt. Ein immenser Kamin bestimmte die Wand hinter ihnen, genau wie Mr   Montague es beschrieben hatte. Aber nichts hatte mich auf den Koloss einer Rüstung vorbereitet, der im Schatten daneben aufragte. Das Schwert glitzerte; in dem flackernden Licht wirkte die Rüstung aufmerksam, lebendig, beobachtend. Im Kamin stand ein massiger Kasten aus dunklem Metall: das Grab von Sir Henry Wraxford.
Hier war ich schon einmal,
dachte ich, aber dieses Aufflackern eines Erkennens war blitzartig wieder verschwunden.
    «Doktor Wraxford war gerade dabei», sagte Mrs   Bryant ungeduldig, «uns von einer Entdeckung in den Papieren seines Onkels zu erzählen.» Sie sprach, als hätte ich sie alle warten lassen, ein Arrangement, das Magnus mit Sicherheit absichtlich getroffen hatte.
    «Ja, in der Tat», antwortete er. Seine Stimme klang verbindlich wie immer, hatte aber einen erwartungsvollen Unterton. Seine Zähne blitzten auf, als er lächelte, seine Pupillen schienen wie Zwillingsflammen. «Aber vielleicht sollten wir zum Geheimnis seines Verschwindens kommen – es erscheint noch verblüffender, wenn man hier steht, wo wir uns gerade befinden. Um Sie zu erinnern: Der Kammerdiener meines Onkels, Drayton, hatte gesehen, wie er sich gegen sieben Uhr am Abend des Unwetters in sein Arbeitszimmer nebenan zurückzog. Als Mr   Montague am nächsten Abend eintraf, war er gezwungen, die Tür aufzubrechen, fand er doch alle Türen zum Korridor von innen verriegelt und verschlossen, die Schlüssel in den Schlössern. Wir haben vergeblich versucht, eine dieser Türen von außen zu verschließen. Es gibt unseres Wissens keinen Geheimgang, keine Falltür, kein geheimes Versteck oder irgendetwas dieser Art. Die Kaminschächte sind zu schmal, als dass ein Erwachsener – selbst ein Mann, der so kleinwar wie mein Onkel – hindurchklettern könnte. Was wurde also aus ihm?
    Die einzige vernünftige Erklärung – die einzige, die ich sehe – ist, dass er irgendwie aus dem Fenster hinauskletterte» – er wies auf das Fenster über der Rüstung   –, «sich an der Leitung hinabließ, in den Wald stolperte und dort in einer der alten Minen zu Fall kam, wie es von seinem Vorfahren Thomas Wraxford vermutet wird. Es ist nicht unmöglich – der Fensterflügel war nur angelehnt   –, nur ist es unwahrscheinlich, dass ein gebrechlicher, alter Mann all das in vollkommener Dunkelheit getan haben kann, in der Nacht eines Unwetters. Ich habe diesen Abstieg selbst einmal gemacht, in deutlich besserer

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