Ruf! Mich! An! - Buschheuer, E: Ruf! Mich! An!
hätte lieber zehn Mark Trinkgeld.
Ecke Fasanenstraße steht ein Straßensänger mit müdem Gesicht, vor sich auf dem Boden eine Blechdose mit Groschen. Seine Augen sind tot. Er hat alle Illusionen verloren. Er ist wirklich sehr schmutzig, aber er singt so schön zur Gitarre. Dann auch noch ein Lied von Hollaender:
Ja soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen?
Die Sonne, die Sterne gehörn doch auch allen!
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre,
ich bin doch zu schade für einen allein.
Plötzlich packt mich eine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Lieben. Geliebt werden. Das Weltmodell des ewig nach Vereinigung strebenden Paars. Glück wie im Ärzteroman. In einer heftigen, fast schmerzhaften Anwandlung von Menschlichkeit halte ich inne und ertaste mit der rechten Hand in meiner Manteltasche ein Zwei-Mark-Stück. Kurz plagt mich die Wahnvorstellung, dass er der Mann vom Telefon sein könnte. Valmont! Natürlich verwerfe ich diese fixe Idee sofort wieder. Dieses verkrustete Subjekt, dieser Schmutzfuß, mein Valmont! Ich rolle die kalte Münze zwischen Daumen und Zeigefinger und nähere mich langsam dem Sänger, noch unverbindlich, noch wie eine schlendernde nächtliche Spaziergängerin.
Nein, ich werde ihm kein Geld geben! Ich werde ihn nicht bezahlen für diesen Moment. Fast versagen mir die Beine, so tief bin ich gerührt vom eigenen Mitgefühl. Heute Abend bin ich menschlich! Mein zweiter Vorname ist Edelmut. Das wär was! Ein Mensch mit Herz. Einer, der einem Ideal folgt. Ein zum Kotzen guter Mensch! Ein Gutmensch. Vielleicht werde ich einfach stehen bleiben und seiner Stimme lauschen, und er wird mich anlächeln und nur für mich singen, nachts auf dem menschenleeren, morbiden Kurfürstendamm in dieser knallbekloppten Stadt Berlin. Vielleicht werden wir uns wildromantisch ineinander verlieben, er wird bei mir einziehen und mir Liebesbriefe schreiben und Gedichte im Stabreim. Den blöden Yuppie-Job schmeiße ich einfach hin, und wir brennen durch, nur die Gitarre und er und ich …
»Fotze!« Ich zucke zusammen, sehe starr in die Auslagen von Betten-Rid. Meine Adern pumpen rauschendes Blut durch meine Ohren. Ich befinde mich im Zustand des Leerlaufs auf vollen Touren. Ein Lattenrostbett eins vierzig mal zwei Meter, runtergesetzt auf 599 Mark. Daneben das Kassettenbett »Pyrenäen«, Bezug: feine Baumwoll-Einschütte aus 100 Prozent Baumwolle … Es ist der Straßensänger, der, während die Hand weiter Akkorde schlägt, mit leiser Stimme zischt: »Blöde alte Fleischlochfotze!«
Ich drehe mich um, und für einen kurzen Moment sehen wir uns an. Er starr vor Schmutz, ich starr vor Schreck. Dann singt er weiter, als sei nichts geschehen.
Eigentlich sollte ich für diese Lektion dankbar sein! Nur keine Rührung! Bloß keine emotionalen Verwicklungen! Dieser Kelch ist noch mal an mir vorübergegangen! Während ich mich entferne, male ich mir aus, wie ich ihm blitzschnell Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Augen steche. Er wird durch den Angriff so hart an die Häuserwand geschleudert, dass dort ein Blutfleck mit Haaren zurückbleibt. Ich sage, er soll sich entschuldigen. Er entschuldigt sich, muss aber auf die Knie und lauter.
20. Hoppi Galoppi
Zum Beispiel der Plastik-Kotzfleck. Der Plastik-Kotzfleck von Nanu-Nana hat Dietrich und mir schon oft gute Dienste geleistet. Wir nehmen ihn immer mit ins Kino und legen ihn vor uns, auf einen Sitz in der vierten Reihe, Mitte. Es gibt ja immer diese zwei Meter großen Zu-spät-Kommer, die sich genau vor einen setzen. Abernicht, wenn da ein Kotzfleck ist. Auch diesmal nicht. Dietrich und ich machen High Five.
Trotzdem ist das Kino ziemlich voll. Viele Leute, also auch viel Popcorn.
Zur Sache, Schätzchen
gilt als Kult, obwohl Kult ja inzwischen schon fast ein Schimpfwort ist. Einer niest. Ein anderer sagt: »Schönheit!« Ich habe zwei Valium genommen und vorsichtshalber die Walther eingesteckt.
»Du hast doch keine Waffe dabei?«, fragt Dietrich besorgt.
»Was für eine Waffe? Was soll ich mit einer Waffe?«, frage ich zurück und schließe leise mein Cape über dem Holster.
Werbung. »Übrigens! Ich hab das mal nachgeschlagen! Es gibt zwei Theorien von der Geburt der Aphrodite. Einmal die von Homer und dann eine ältere von …«
Ich zerre einen zerknitterten Internet-Ausdruck aus der Tasche. »Hesiod. Da steht’s! Kronos kastrierte seinen Vater Uranos mit der Sichel.«
»Autsch!« Dietrich krümmt sich in ehrlich empfundenem
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