Ruf! Mich! An! - Buschheuer, E: Ruf! Mich! An!
guter Laune lasse ich ihn durch, bei schlechter bremse ich ihn aus. Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist: Der Schritt neben mir, der meinen Laufrhythmus brechenwill, oder der einverstandene Schritt, der sich meinem anbiedert und meine Privatsphäre verletzt. Ein kleines schmutziges Mädchen eiert mir auf einem Fahrrad entgegen, auf dessen Pedale Holzklötze geschraubt sind: »Kann ßon ohne ßtütßräder fahren«, ruft es und strahlt mich zahnlos an. »Verfalz dich, Drecksbalg, folter deine Eltern!«
Heute hinkt einer hinter mir. Auch schrecklich. Wenn einer hinter mir hinkt, dann gruselt mich das. Ich lege also einen Zahn zu, aber der Hinkschritt hinter mir wird kürzer und schneller. Ich beschleunige nochmals, aber Humpel hat den Turboschritt drauf: Klockklock. Klockklock. Jetzt weiß ich sicher, dass er mich verfolgt. Ich bleibe an einem Zeitungsstand stehen, kaufe BILD – Aufmacher: LÖST EIN KARZINOM EIN WELTPROBLEM? WIE KRANK IST SADDAM? – und schiele aus den Augenwinkeln nach dem Hinkenden. Mist! Kann nichts erkennen. Hinter mir kauft ein Mann eine
Süddeutsche
und einen
Spiegel
. Schwarzer Trench, weißer Schal. Ein Regisseur. Nein, kein Regisseur. Ein Maler. Oder ein Designer. Für Blumenkübel. Er sieht mich kurz aus wässrig-blauen Augen an. Seine Ohrläppchen sind angewachsen. Aus seinen unten umgenähten No-Name-Jeans ragt links ein voluminöser Gipsfuß. Er ist der Hinker! Im Schutz der BILD-Zeitung mache ich ein Foto von ihm. Aber er kriegt es mit. »Schicken Sie mir einen Abzug?«, sagt er, zieht eine Visitenkarte aus seinem Mantel und lächelt gewinnend. Seine Stimme! Ist es Valmont? Hat er mich ausfindig gemacht, über ISDN, die Auskunft, einen Detektiv? Und nun verfolgt er mich, Valmont, er ist es, sonst hätte er mich nicht so angesehen. Er will mich vergewaltigen, zerhacken, in Tüten packen und in Müllcontainern zerstreuen. Ich raffe meinenGaultier-Mantel und renne los, stolpernd, mindestens einhundert Meter, bis zur Uhlandstraße. Erst jetzt drehe ich mich um. Weg! Abgehängt!
Nein! Unsinn! Das kann unmöglich Valmont sein! So sieht ein Mann von der Auskunft nicht aus! Und die Stimme war auch nicht dieselbe wie am Telefon. Ich sehe auf die schillernde Plastik-Visitenkarte: »Gerd Schugk, Export Import.« Will sie in den Müll schmeißen, aber der besteht aus vier Körben: gelb für Verpackung, grün für Glas, rot für Restmüll, blau für Papier. Das ist mir zu anstrengend! Sollen die doch einen Broiler einstellen, der den Müll sortiert. Der findet bestimmt noch was Brauchbares! Das Müllsortierungsproblem löst sich von selbst. Ein Türke mit schlabberigen Schnellfickerhosen und Koteletten wie Brisko Schneider stellt sich mir in den Weg und fragt, ob ich mal mit ihm ausgehen will. »Rufen Sie mich an!«, sage ich und drücke ihm Schugks Karte in die Hand.
Und dann die Ampeln! Und die Ampelphasen! Ihnen verdanke ich, dass ich große Teile meines Lebens auf Inseln zwischen Fahrbahnen verbringen muss. Hätte ich kein Handy, so verginge diese Lebenszeit vollkommen ungenutzt. Ich überquere also die Uhlandstraße bei Rot. Da kreuzt ein böser alter Mann meinen Weg, auch ein Jaywalker. Seine Ohren gefallen mir nicht und sein Hut und alles, was dazwischen ist. Er nähert sich mir fast frontal, den Arm angewinkelt, opfert keinen Millimeter, ich auch nicht. Etwa zwei Meter vor mir murmelt er: »In Deutschland weicht man
rechts
aus!« Ich spanne jeden Muskel an und bleibe unbeirrt auf meiner Bahn. Etwa auf der Mitte der Fahrbahn kollidieren wir, taumeln, ich verliere mein Handy. Wir laufen erstmal aus der Gefahrenzone, drehen uns um, drohen, schimpfen. Ich laufe zurückund hebe mein Handy auf. Es scheint unversehrt. Was der böse Onkel sagt, kann ich nicht verstehen. Wahrscheinlich Schöntachnoch oder Kruzitürken oder Heil Hitler. Ich nenne ihn Lederlappen und sabbernder Sütterlin. Seine Eltern sind ja wohl Geschwister! Mein Puls drischt auf mich ein. Ich hyperventiliere. Nach etwa zehn Metern mache ich kehrt, renne zurück und will diesen Wilmersdorfer Witwer durch die Schrumpelhose mit dem Lauf meiner Walther penetrieren, aber er ist schon weg.
22. Muschilein
»Beim Memorieren sollte absolute Stille herrschen!«, murmelt Dietrich, wischt mit einem nicht grade sauberen Geschirrtuch auf dem Tresen herum, zieht die Stirn kraus und schweigt. Dann schüttelt er lange den Kopf und gibt mir das Foto vom Gipsfuß-Hinker zurück. Schließlich sagt er: »Eugénie und Valmont. Starker
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