Ruf mich bei Deinem Namen
bedeutete mir nun so viel wie der Schnappschuss eines geliebten Menschen, den die Soldaten mit an die Front nehmen – nicht nur zur Erinnerung
daran, dass das Leben auch schöne Seiten hat und das Glück auf sie wartet, sondern als Mahnung, dass dieses Gesicht ihnen nie verzeihen würde, wenn sie in einem Leichensack
zurückkämen.
Seine Worte weckten in mir das Verlangen nach Dingen, die mir sonst nie in den Sinn gekommen wären und den Wunsch, mich an Dingen zu versuchen, die ich mir nie zugetraut hätte.
Und mochte er noch so unübersehbar erkennen lassen, dass er nichts mit mir zu tun haben wollte, und mochte er auch noch so vielen seine Gunst schenken und Nacht für Nacht mit ihnen
schlafen – jemand, der mir sein ganzes Wesen enthüllt hatte, während er im Traum nackt unter mir lag, konnte im wahren Leben nicht wirklich anders sein. Dies war sein wahres
Ich – alles andere war Nebensache.
Oder nein: Er war auch der andere, der Mann in der roten Badehose. Nur dass ich mir jede Hoffnung verbieten musste, ihn ohne Badehose zu sehen.
Wenn ich an unserem zweiten Tag nach der Piazzetta den Mut gefunden hatte, mich ihm für die Fahrt in die Stadt aufzudrängen, obgleich überdeutlich war, dass er nicht bereit war,
mit mir zu reden, dann nur deshalb, weil ich, als ich ihn die Worte lautlos vor sich hinsprechen sah, die er gerade auf seinen gelben Block geschrieben hatte, seinen flehentlichen Satz »Nicht
aufhören, du bringst mich sonst um!« im Ohr hatte. Als ich ihm den Stendhal-Band schenkte und danach darauf bestand, uns ein Eis zu bezahlen, weil wir, um das Eis zu kaufen, unsere
Räder noch ein wenig länger durch die schmalen, schattigen Gassen von B. schieben mussten und dadurch noch ein wenig länger zusammen sein konnten, war das mein Dank dafür, dass
er mir dieses »Nicht aufhören, du bringst mich sonst um!« geschenkt hatte. Und als ich ihm versprochen hatte, keine großen Reden zu schwingen, barg ich insgeheim dieses
»Nicht aufhören, du bringst mich sonst um!« im Herzen – das kostbarste Geständnis, das er mir hatte machen können. An jenem Vormittag hatte ich es in meinem
Tagebuch festgehalten, allerdings nicht dazugeschrieben, dass ich es geträumt hatte. Wenn ich den Eintrag Jahre später las, wollte ich mir wenigstens für Augenblicke einbilden
können, dass er diese flehentlichen Worte tatsächlich an mich gerichtet hatte. Ich wollte den aufgewühlten Klang seiner Stimme bewahren, der noch Tage in mir nachhallte, so dass ich
mir dachte, dass ich, könnte ich ihn jede Nacht meines Lebens so in meinen Träumen erleben, mein ganzes Leben auf Träume setzen und auf alles übrige verzichten würde.
Als wir bergab rasten, vorbei an meinem Lieblingsplatz, vorbei an den Olivenhainen und den Sonnenblumen, die uns ihre erschrockenen Gesichter zuwandten, als wir an den Pinien
vorübersegelten, an den beiden alten Eisenbahnwaggons, die seit Generationen keine Räder mehr hatten, aber noch immer das königliche Wappen des Hauses Savoyen trugen, vorbei an der
langen Reihe der Zigeuner, die auf der Straße ihre Waren verhökerten und uns mit Mord und Totschlag drohten, weil wir mit unseren Rädern so dicht an ihren Töchtern
vorbeischrammten, wandte ich mich Oliver zu und rief: »Ich kann nicht aufhören, es bringt mich sonst um!«
Ich hatte seine Worte in den Mund nehmen, sie noch eine Weile auskosten wollen, ehe ich sie wieder in mein Versteck schaffte, so wie Schäfer ihre Herden bergauf treiben, wenn es warm ist,
sie bei einem Kälteeinbruch aber schleunigst unter Dach und Fach bringen. Indem ich seine Worte herausschrie, machte ich sie reicher und voller, gab ihnen etwas wie ein Eigenleben, ein
längeres und lauteres Leben, das niemand kontrollieren konnte – wie das Leben der Echos, wenn sie an den Klippen von B. abgeprallt und in den fernen Untiefen verschwunden waren, wo
einst Shelleys Boot mit der Sturmbö zusammenstieß. Ich gab Oliver zurück, was ihm gehörte, gab ihm seine Worte zurück mit dem stillschweigenden Wunsch, sie vor mir zu
wiederholen, weil es jetzt an ihm war, sie auszusprechen.
Beim Lunch – kein Wort. Nach dem Lunch setzte er sich im Garten in den Schatten, um, wie er vor dem Kaffee angekündigt hatte, die Arbeit von zwei Tagen zu
erledigen. Nein, heute Abend wolle er nicht in die Stadt. Morgen vielleicht. Auch nicht zum Pokern. Dann ging er nach oben.
Vor wenigen Tagen hatte ich seinen Fuß auf meinem gespürt. Jetzt hatte er nicht mal mehr
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