Ruge Eugen
halbes Glas Honig mit einem Dreiviertelliter Portwein, dann begoss sie die Gans damit und schob sie wieder in die Röhre.
– Alles klar? – Sascha steckte seinen Kopf durch die Tür.
– Alles klar, sagte Irina.
– Na dann, sagte Sascha und hob noch einmal das Glas.
– Geht es dir gut, fragte Irina.
Aber Sascha, anstatt zu antworten, fragte zurück:
– Wie geht es dir, Mama?
– Gut, sagte Irina und zuckte mit den Schultern.
– Was ist denn?
– Du weißt ja nicht, was hier los ist, sagte Irina. Du bist ja nicht hier.
– Ach, Mama, jetzt lass das doch mal.
– Und die Rente werden sie uns auch kürzen, sagte Irina rasch, um von dem wunden Punkt – Moers – abzulenken.
– Quatsch, sagte Sascha. Das sind wieder so Gerüchte. Es geht euch gut! Ihr solltet das Leben genießen! Fahrt nach Paris! Kommt uns besuchen!
Sascha nahm sie fest an den Schultern, schaute ihr ins Gesicht:
– Mama, Catrin hat nichts gegen dich.
– Das sage ich gar nicht.
– Dann ist ja alles gut, sagte Sascha. Okay? Alles gut?
Irina nickte. Sie klopfte zwei, drei Zigaretten aus der Schachtel, hielt sie ihm hin.
– Und noch eine gute Nachricht, sagte Sascha. Ich rauche nicht mehr.
Kurze Zeit später war auch Kurt wieder da. Ohne Charlotte.
– Tja, sagte er.
Dann berichtete er kurz und widerwillig: Es ging Charlotte nicht gut. Sie habe ihn nicht wiedererkannt, sei kaum bei Bewusstsein. Und der Arzt habe ihm zu verstehen gegeben, na ja, dass man sich auf das Schlimmste gefasst machen müsse.
Einen Moment schwiegen alle. Sascha stand an der Tür zum Wintergarten und schaute hinaus (oder schaute er auf den kleinen, missratenen Weihnachtsbaum – Kurts Weihnachtsbaum: Lametta in Klumpen, blaue Kosmetikwatte als Schnee). Catrin machte ein Trauergesicht, als sei Charlotte bereits gestorben. Irina ärgerte sich.
Es war nicht recht, dass sie sich ärgerte, sie wusste es. Natürlich konnte Charlotte nichts dafür, wenn sie jetzt starb. Trotzdem ärgerte sich Irina. Stumm zog sie sich in die Küche zurück und begann die Kartoffeln für die Klöße zu schälen. Sie versuchte, ihre Gefühllosigkeit mit der langen Liste von Kränkungen zu rechtfertigen, die Charlotte ihr angetan hatte. Nein, sie hatte es nicht vergessen, wie sie die Ritzen in der Garderobennische ausgekratzt hatte. Wie Charlotte Kurt mit dieser Gertrud hatte verkuppeln wollen … Die schlimmste Zeit ihres Lebens, dachte Irina, während sie die Kartoffeln aufsetzte und sich einen Whisky eingoss – wenigstens musste sie heute nicht mehr Auto fahren! Schlimmer als Krieg, dachte sie. Schlimmer als der erste deutsche Artilleriebeschuss, weiß der Teufel.
Sie trank den Whisky – das Zeug drehte ganz schön! – und rauchte noch eine Zigarette an. Plötzlich musste sie lachen beim Gedanken an den Mülleimerhenkel, den Charlotte ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte: einen alten, verrosteten Mülleimerhenkel, unglaublich! … Nein, das konnte man ihr nicht mehr verübeln. Sie war alt und verrückt, und nun starb sie, allein, im Pflegeheim. Morgen würde sie nach ihr schauen, dachte Irina. Trotz alledem.
Sie legte die Zigarette auf dem Rand des Aschenbechers ab und machte sich daran, die rohen Kartoffeln zu reiben – Thüringer Klöße, halb und halb. Genauer gesagt, ein bisschen mehr Dings als umgekehrt, aber wie denn nun? Irgendwo musste ihr Kochbuch sein. Irina suchte ihr Kochbuch, aber nach einer Weile stellte sie fest, dass sie gar nicht ihr Kochbuch suchte, vielmehr kreisten ihre Gedanken noch immer um Charlotte … Denn eins musste man sagen: In den letzten zwei Jahren, genauer gesagt, seit Wilhelms überraschendem Tod – er war ausgerechnet an seinem Geburtstag gestorben, und obwohl er schon neunzig gewesen war, hatte niemand mit seinem Ende gerechnet –, seit Wilhelms überraschendem Tod hatte Charlotte sich auf seltsame Weise gewandelt. Und das Seltsame war nicht etwa ihre plötzlich durchschlagende Verrücktheit – ein bisschen verrückt war sie ja immer gewesen –, sondern wie mild und umgänglich sie auf einmal geworden war. Plötzlich, so schien es, war die bösartige Energie, die sie stets umgetrieben hatte, verpufft. Auf einmal hatte sie begonnen, Irina mit meine liebe Tochter anzureden. Schrieb Kurt wirre, aber fast zärtliche Briefe oder rief mitten in der Nacht an, um sich für irgendeine Nichtigkeit zu bedanken … bis sie schließlich eines Nachts in langen Unterhosen und mit ihrem mexikanischen Handkoffer vor der
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