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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Tür gestanden und gefragt hatte, ob sie in dem Zimmer, das nach dem Weggang von Nadjeshda Iwanowna frei geworden war, wohnen dürfe. Nun war es Kurt gewesen, der kategorisch ablehnte. Nein, natürlich hatte Irina sie nicht im Haus haben wollen. Aber sie ins Pflegeheim abzuschieben erschien ihr brutal, und auch wenn Charlotte sich widerstandslos einweisen ließ, kämpfte Irina jedes Mal mit den Tränen, wenn sie sie dort zwischen all den Menschen antraf, die mit erloschenem Blick durch die Gänge irrten …
    Im Kochbuch stand: Knapp 2/3 der Kartoffeln schälen, waschen und auf der Haushaltsreibe fein reiben … Irina versuchte mit dieser Mengenangabe fertigzuwerden … War das jetzt eigentlich mehr oder weniger als … Du lieber Gott, sie musste aufhören zu trinken. Nur noch einen! Einen brauchte sie noch, um die Bitterkeit zu verdünnen, die sich in ihrer Brust aufgestaut hatte. Denn wie Charlotte auch gewesen war, was sie auch getan hatte, so war es doch einfach unfassbar, dass es ein Weihnachtsfest ohne sie geben sollte. Ohne Charlotte und ihren Waschbärpelz, ohne ihre Fistelstimme, ihre gekünstelten Komplimente, ihre Prahlereien, ohne ihren Dederon-Beutel, aus dem sie mit großer Geste peinliche Geschenke verteilte – und auch wenn es das idiotischste Geschenk war, das sie jemals erhalten hatte, so war dieser Mülleimerhenkel, den Charlotte ihr freudestrahlend überreicht hatte, das erste und einzige Geschenk gewesen, von dem Irina gespürt hatte, dass es von Herzen kam …
    Einen, dachte Irina. Einen auf Charlotte, in ihrem Sterbebett.
    Aus dem Zimmer waren jetzt die Stimmen der Männer zu hören, die übliche Diskussion: Arbeitslosigkeit, Sozialismus … Was hier geschieht, ist der Ausverkauf der DDR, sagte Kurt. Irina kannte das alles längst, es wurde ja über nichts anderes mehr geredet, wenn sie Besuch hatten – allerdings hatten sie kaum noch Besuch. Plötzlich hatten die Leute alle zu tun. Obwohl sie ja eigentlich alle arbeitslos waren. Auch seltsam, dachte Irina. Die DDR war pleite , hörte sie Sascha sagen, die hat sich selbst ausverkauft … es folgten Rechnungen, die sie nicht ganz verstand … Wenn die Gehälter hier eins zu eins , sagte Kurt, während Irina über zwei Drittel nachdachte, dann sind die Betriebe von heute auf morgen pleite . Aber Sascha sagte: Wenn sie nicht eins zu eins gezahlt werden, dann gehen die Leute rüber  … Eins zu eins, dachte Irina. Oder eins zu zwei Drittel … Ich verstehe das nicht, sagte Sascha, du hast doch selber ständig darüber geredet, dass der Sozialismus am Ende ist. Waren das bloß Worte  … Plötzlich kam ihr alles sehr fern vor … Ich rede hier nicht von der DDR, sondern von Sozialismus, von einem wahren, demokratischen Sozialismus! Auch die Klöße kamen ihr plötzlich sehr fern vor … Es gibt keinen demokratischen Sozialismus , hörte sie Sascha sagen. Darauf Kurts Stimme: Der Sozialismus ist seinem Wesen nach demokratisch, weil diejenigen, die produzieren, selber über die Produktion …
    Irina nahm eine Gabel und prüfte, ob die Kartoffeln schon gar waren … Egal, dachte sie. Blödes Herumgestreite … Ein Mal noch Weihnachten in diesem Haus. Ein Mal Klostergans. Ein Mal Klöße, so wie es sich gehörte. Und dann, dachte sie, können sie mich hier raustragen … Und zwar mit den Füßen zuerst! Prost. Sie kippte den Rest runter – aber es war kein Rest da. Also goss sie sich noch einen winzigen Rest ein und begann die Kartoffeln zu pellen. Auf einmal waren die Stimmen sehr nah:
    – Aha, sagte Kurt, darf man jetzt also nicht mehr über Alternativen zum Kapitalismus nachdenken! Wunderbar, das ist also eure Demokratie …
    – Na, Gott sei Dank, dass du in deinem Scheißsozialismus über Alternativen nachdenken durftest.
    – Du bist ja wirklich schon vollkommen korrumpiert, sagte Kurt.
    – Korrumpiert? Ich bin korrumpiert? Du hast vierzig Jahre lang geschwiegen, schrie Sascha. Vierzig Jahre lang hast du es nicht gewagt, über deine großartigen sowjetischen Erfahrungen zu berichten.
    – Das mache ich schon noch …
    – Ja, jetzt, wo es keinen mehr interessiert!
    – Was hast du denn getan! – Jetzt schrie auch Kurt: Wo waren denn deine Heldentaten!
    – Scheiße, schrie Sascha zurück. Scheiß auf eine Gesellschaft, die Helden braucht!
    – Scheiß auf eine Gesellschaft, in der zwei Milliarden Menschen hungern, schrie Kurt.
    Plötzlich war Irina im Zimmer, sie wusste selbst nicht, wie. War im Zimmer und schrie:
    – Hört

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