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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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auf!
    Es war einige Sekunden lang still. Dann sagte sie:
    – Weihnachten.
    Eigentlich hatte sie sagen wollen: Heute ist Weihnachten. Sie hatte sagen wollen: Sascha ist seit Monaten zum ersten Mal wieder da, also lasst uns diese zwei Tage in Frieden verbringen – so ungefähr. Aber obwohl ihre Gedanken noch vollkommen klar waren, hatte sie seltsamerweise Schwierigkeiten zu sprechen.
    – Weihnachten, sagte sie. Sie drehte sich um und ging wieder in die Küche.
    Ihr Herz bummerte. Plötzlich war sie ganz außer Atem. Sie stützte sich auf der Spüle ab. Stand so einen Moment. Schaute in die blutige Schüssel, die immer noch auf der Ablage neben der Spüle stand … Vergessen: die Innereien. Sie nahm das große Fleischmesser … Konnte es plötzlich nicht. Konnte es nicht mal mehr anfassen, das Zeug in der Schüssel. Kam ihr plötzlich so vor, als sei das ihrs. Als sei es das, was man ihr herausoperiert hatte, dort, wo es wehtat, im Unterleib …
    – Soll ich nicht doch was helfen? – Catrins Stimme, fürsorglich-freundlich: Ich kann rasch den Kloßteig …
    – Ich mache das, sagte Irina. Das ist thüringisch, sagte sie nicht, lieber keine schwierigen Wörter. Stattdessen sagte sie: Das ist halb und halb … Aber ein bisschen mehr als …
    – Ich weiß, sagte Catrin. Wie viele rohe Kartoffeln hast du denn drin?
    Wie viele rohe Kartoffeln?
    – Ich mache das, sagte Irina noch einmal.
    – Das werden so fünf oder sechs sein, sagte Catrin, während sie schon zur Reibe griff. Herrgott, das ist aber auch kompliziert …
    Catrin sprach schnell, viel zu schnell, und Irina brauchte eine Weile, um die leisen, huschenden Silben einzufangen und wieder zusammenzusetzen. Aber als sie sie wieder zusammengesetzt hatte, lauteten sie:
    – Weißt du … es gibt jetzt auch fertige Kloßmasse … Die ist, ehrlich gesagt … gar nicht so schlecht … Soll ich dir mal … die Marke aufschreiben?
    Irina nahm Catrin die Reibe aus der Hand.
    – Entschuldige, sagte Catrin. War nicht böse gemeint … Ich meine nur, wegen der Arbeit.
    – Ich. Mache. Das. Sagte Irina.
    Erst als Catrin weg war, bemerkte sie, dass sie noch das große Fleischmesser in der Hand hielt.
    Sie legte das Messer weg. Stützte sich einen Augenblick auf die Spüle. Wenn man einatmete, tat es weniger weh. Irina atmete ein. Aber jetzt waren wieder die Stimmen der Männer zu hören.
    – Du hast einfach nicht lange genug gesessen! Die hätten dir nochmal zehn Jahre aufbrummen sollen!
    Die Innereien vor ihren Augen begannen zu tanzen.
    – Du hast überhaupt keine Ahnung, was Kapitalismus bedeutet!
    Irina schaute die Wandfliesen an und versuchte sich auf das Fugenkreuz zu konzentrieren.
    – Der Kapitalismus mordet, schrie Kurt. Der Kapitalismus vergiftet! Der Kapitalismus frisst diese Erde auf …
    Irina atmete wieder aus. Sechzehn Uhr, Deutschlandfunk, sagte das Radio. Die Sowjetunion wurde zum dritten Mal aufgelöst. Trotzdem wunderte sie sich ein bisschen. Über das Wetter.
– Achtzig Millionen Tote , schrie Sascha. Achtzig Millionen! War sie das gewesen? Die Hände. Der Bauch. Für die Heimat, für Stalin. Schöner Beschiss. Wenn man immer nur … einatmen könnte.
    – Zwei Milliarden, schrie Kurt.
    Zuerst kippte sie das Zeug in den Müll: die Kartoffeln. Dann zog sie den Dingsbums an. Nur die Flasche war schwer … aufzukriegen mit Handschuh. Auf die Heimat! Auf Stalin! Auf alle, die sie betrogen hatten!
    – Ja, die Kinder in Afrika, brüllte Kurt. Was ist daran komisch!
    Sie zog die Gans aus dem Ofen. Gans, dumme Gans. Da lag sie. Die Narbe war aufgeplatzt, das Loch klaffte. Tat weh, als sie hineingriff. Die Pampe raus, ohne Handschuh. Die Füllung. War heiß. Aber egal … ging nicht anders. Sie atmete ein. Dafür waren die Innereien ganz kalt. Sie nahm alles. Mit einem Mal. Stopfte es wieder hinein. Dumme Gans. Und hatte noch die Hand drin, hatte das Kalte noch in der Hand, außen heiß, innen kalt … als es in Rutschen kam. Die ganze Küche. Die Fliesen. Und tanzten. Nur, jetzt waren es Fußbodenfliesen.
    Catrin fasste sie unter die Arme.
    – Fass mich nicht an, sagte Irina.
    – Irina, sagte Catrin.
    Und da kam es heraus, der Rest. Kam von selbst. Schrie sich von selbst mit heraus. Klebte mit dran, an dem Rausschrei, winziger Rest:
    – Fass mich nicht an, du Aas!
    Dann kam der Fußboden wieder näher. Die Fliesen. Tanzten. Aber die Gans war ganz still. Nach einer Weile. Lag ganz still auf den Fliesen. Die Gans, dumme Gans. Mit ihrem

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