Ruge Eugen
beiden etwas.
Nach einer Weile begann Kurt, sich eine Pfeife zu stopfen. Hin und wieder stieß er Luft durch die Nase, ein Geräusch, das er machte, wenn er ratlos war.
Sein Tabaksbeutel knisterte.
Dann krächzte die Tür von Nadjeshda Iwanowna. Langsam, sehr langsam näherte sich das Schlurfen dem Wohnzimmer … Hielt inne. Dann, durch den Türspalt, die Stimme von Nadjeshda Iwanowna, dünn, aber eindringlich, in typischer Weise aufsteigend:
– Dass Sascha nachher nicht vergisst, ein Glas Gurken mitzunehmen.
Kurt stand langsam auf, ging um den Tisch, öffnete die Zimmertür ganz und sagte:
– Nadjeshda Iwanowna, Sascha kommt heute nicht.
Nadjeshda Iwanowna war einen Augenblick ratlos, dann sagte sie:
– Macht nichts, die Gurken halten sich ja.
– Nadjeshda Iwanowna, sagte Kurt … Er hob beide Hände, ließ sie wieder fallen und sagte:
– Nadjeshda Iwanowna, setzen Sie sich bitte einen Augenblick.
– Habe schon gefrühstückt, sagte Nadjeshda Iwanowna.
– Setzen Sie sich bitte einen Augenblick, wiederholte Kurt.
Nadjeshda Iwanowna schlurfte langsam um den Tisch herum, setzte sich auf den Rand eines Stuhls, stellte das mitgebrachte Glas Gurken auf den Tisch und legte ihre sehnigen, abgearbeiteten Hände übereinander.
– Nadjeshda Iwanowna, sagte Kurt, die Sache ist die: Sascha kommt dann wohl eine Weile nicht.
– Ist er krank, fragte Nadjeshda Iwanowna.
– Nein, sagte Kurt. Sascha ist im Westen.
Nadjeshda Iwanowna überlegte.
– In Amerika?
– Nein, sagte Kurt, nicht in Amerika, im Westen. In Westdeutschland.
– Ich weiß, sagte Nadjeshda Iwanowna. Westdeutschland, das ist in Amerika.
Irina hielt es nicht mehr aus.
– Sascha ist weg, schrie sie. Tot, verstehst du, tot!
– Irina, sagte Kurt auf Deutsch, du kannst doch nicht so etwas sagen!
Zu Nadjeshda Iwanowna sagte er auf Russisch:
– Sascha ist nicht tot, Irina meint, dass er sehr weit weg ist. Dass er nicht mehr kommen wird.
– Aber zu Besuch, sagte Nadjeshda Iwanowna.
– Nein, sagte Kurt, auch nicht zu Besuch. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.
Nadjeshda Iwanowna erhob sich langsam, schlurfte zurück in ihr Zimmer. Die Tür krächzte, als sie sich schloss.
1959
Unendlich.
Achim Schliepner hat gesagt, man kann nicht bis unendlich zählen.
Alexander lag auf seiner Pritsche und träumte davon, bis unendlich zu zählen. Er träumte davon, dass er der Erste sein würde, der bis unendlich zählt. Er wusste schon, wie man zählt. Er zählte und zählte. Zählte sich in schwindelerregende Höhen. Millionen, Trillionen, Trillibillionen, Tausend Millionen Trillibillionen … Und auf einmal war er da: unendlich! Beifall rauschte. Jetzt war er berühmt. Er stand in einem offenen schwarzen Tschaika, der sagenhaften sowjetischen Staatskarosse mit massenhaft Chrom und raketenartigen Heckflügeln. Langsam rollte das Gefährt durch die Straße. Links und rechts standen die Menschen Spalier, so wie am Ersten Mai, und winkten ihm zu, mit kleinen, schwarz-rot-goldenen Fähnchen …
Dann bekam er ein Buch auf den Kopf. Das war Frau Remschel, sie passte auf, dass man schlief. Wer nicht schlief, bekam ein Buch auf den Kopf.
Die Mama holte ihn ab. Es dämmerte schon. Bald kam der Mann, der die Gaslaternen anzündete.
– Mama, wann fahren wir denn zu Baba Nadja?
– Ach, Saschenka, das dauert noch.
– Warum dauert immer alles so lange?
– Sei froh, Saschenka, dass es lange dauert. Wenn du groß bist, geht plötzlich alles ganz schnell.
– Warum?
– So ist das eben: Wenn man älter wird, vergeht die Zeit schneller.
Verblüffende Erkenntnis.
Dann waren sie schon beim Konsum. Der Konsum lag etwa auf halbem Weg. Es war ein weiter Weg, besonders morgens. Der Rückweg kam ihm immer kürzer vor. Er überlegte, ob es daran lag, dass er am Nachmittag schon wieder ein kleines bisschen älter war.
– Willst du mit reinkommen, fragte die Mama, oder willst du hier draußen warten?
– Mit reinkommen, sagte er.
Im Konsum gab es Milch gegen Marke. Mit einer großen Kelle füllte die Verkäuferin die Kanne. Früher hatte das immer Frau Blumert getan. Aber Frau Blumert hatte man verhaftet. Er wusste auch, warum: weil sie Milch ohne Marke verkauft hatte. Hatte Achim Schliepner gesagt. Milch ohne Marke war streng verboten. Deswegen war Alexander entsetzt, als er die neue Verkäuferin sagen hörte:
– Macht nichts, Frau Umnitzer, dann bringen Sie Ihre Marke morgen.
Seine Mutter suchte immer noch in ihrem
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