Ruhe Ist Die Erste Buergerpflicht
noch darauf erfolgte, überlassen wir der Phantasie des Lesers; aber der Knabe schlug, als er schon Kopf über vom Tische gefallen war, noch mit der Flasche, die er krampfhaft in der Hand hielt, um sich. Zwar verwundete er keinen der Andern, die herbeigesprungen waren, aber, indem die Flasche in Scherben zerschlug, sich selbst an den Schläfen.
Charlotte schrie wie besessen: »Sie stirbt!« Den Kindern sei's angethan! Andere: »Ein Doktor! Schnell einen Doktor!« Nur die Geheimräthin hatte ihre Besinnung behalten: »Was wird es sein! Die Kinder haben sich den Magen überladen. Irgend ein Hausmittel, Legationsrath.«
Die kurze Zwischenzeit, wo Walter und Adelheid zugleich hinausgestürzt waren, um nach einem Arzt zu schicken, und die noch Anwesenden Miene machten sich zu entfernen, füllte Charlotte mit ihren Lamentationen, bis die Geheimräthin ihr ins Wort fiel; sie meinte, hier sei nichts weiter zu beklagen als ein Ungeschick, ein trauriger Zufall oder die vernachlässigte Erziehnug der Kinder.
Das Glück wollte, daß ein Regimentsarzt schon vor dem Hause angetroffen ward, und auch der Vater der Kinder vom abgeschickten Boten bereits auf dem Herwege gefunden und benachrichtigt war. Der Chirurg erklärte beider Zustand für gefährlicher als die Geheimräthin gedacht; Malwine, deren Natur sich nicht selbst geholfen, bedürfe eines Blutlasses; aber er musste die herangeholte Lanzette noch sinken lassen, weil die Wunde an der Schläfe des Knaben so nahe an die Arterie streifte, daß, wenn er nicht rasch hier mit einem Verbande zu Hülfe komme, eine Verblutung zu besorgen stand. Wir wissen wirklich nicht, ob es, nachdem dieser Verband erfolgt, noch nöthig ward, auch das Blut des kleinen Mädchens zu fordern, denn die Kinder wurden in eine Nebenstube geschafft, und der Legationsrath, der hülfreiche Hand dabei geleistet, erklärte, als er zurückkam, er hoffe, daß andere Mittel ausreichen würden.
Aber um noch die Peinlichkeit der Situation für die noch Gebliebenen zu vermehren, erhob sich in der Nebenstube ein neuer Wortwechsel, von dessen Heftigkeit man überzeugt sein wird, wenn wir sagen, daß Charlotte die Angeklagte war, der Geheimrath der Kläger, und die Geheimräthin, die angerufene Richterin, sich der Angeklagten nicht anzunehmen schien. Charlotte war ihr eigner Advokat, und der Geheimrath von der Vogtei konnte, wie wir wissen, wenn die Gelegenheit es mit sich brachte, auch außer sich gerathen. Er folgte der entgegengesetzten Maxime seines Bruders: er hielt Emotionen nicht für das Gift, sondern für eines der Präservativmittel des Lebens. Seine Freunde meinten, er alterire sich am liebsten vor dem Mittagstisch, weil dies dem Organismus des Magens zuträglich sei; jedoch immer nur mit Maß.
Doch als er jetzt aus dem Krankenzimmer herausstürzte und Charlotte hinter ihm, schien er eher der Verfolgte. Sie wenigstens schrie in die Versammlung hinein, ohne im geringsten von den respektablen Personen Notiz zu nehmen: »Meine Cousine, die Frau Hoflackir, hat mir wohl gesagt: Warum giebst Du Dich noch mit ihnen ab, warum opferst Du Dich ihnen! Du kennst sie ja, und Undank ist der Welt Lohn. Ja, ich kenne sie, und Undank bleibt der Welt Lohn!«
»Charlotte,« rief das blasse Gesicht der Geheimräthin, die an der Schwelle stehen blieb. »Bedenke Sie, wo Sie ist.«
»Ja, Frau Geheimräthin, das bedenke ich auch, und Sie sind eine nobel gesinnte Dame, und wer Domestiken behandelt, wie er es selbst verdient, der ist rechtschaffen vor Gott und vor den Menschen. Denn wir Domestiken sind auch Menschen vor Gott und unsrer Herrschaft, und ich brauchte es ja nicht zu sein, sagt mein Cousin, der Herr Hoflackir. Ja wenn der nur hier wäre! Der würde ein Wort sprechen, aber ich bin eine vereinzelte unglückliche ledige Person. Und darum sind der Herr Geheimrath so unverschämt. Hab ich denn die Chocolade gesoffen?«
»Charlotte!« wiederholte die Geheimräthin.
Der Vogtei-Lupinus war auf dem Gipfelpunkt seines Zornes: »Sie soll mir nicht wieder vor's Gesicht.«
»Das will ich auch gar nicht. I bilden Sie sich das nur nicht ein. Und wenn sie's mir auch nicht sagten. Gott bewahre, daß ich noch einen Fuß in das Haus thäte, wo man eine rechtschaffne Person so maltraitirt. Meine Cousine, die Frau Hoflackir, hat auch gesagt, sie könnt's nicht begreifen, warum ich's so lange ausgehalten. Ja, was thut der Mensch nicht, wenn die Kinder uns ans Herz gewachsen sind. Und nun soll ich die Schuld sein! O du gerechte Güte!
Weitere Kostenlose Bücher