Ruhe Sanft
der Stablampe in die Urne und spähte hinein. »Nichts drin.« Er sagte es in einem Ton, als habe er nichts anderes erwartet.
»Ganz bestimmt?« Wetzon war sich so sicher gewesen.
»Geben Sie mir eine Chance.« Er gab dem Wachmann die Stablampe zurück, als die Frau im roten Blazer gefolgt von einem blassen, eleganten Mann zurückkam.
»Ich bin Gerard Falkland, der geschäftsführende Direktor.« Der Mann übersah Wetzon und wandte sich direkt an O’Melvany. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Wir sind hier fertig.« O’Melvany wischte sich den Staub von den Händen.
»Nein, warten Sie!« sagte Wetzon. »Wo ist die andere?«
»Andere was?« O’Melvany steckte die Hände in die Hosentaschen und steuerte auf die Rolltreppe zu.
»Die andere Tempelurne.« Wetzon schaute sich eilig um. Smith musterte etwas in einem flachen Schaukasten. Schmuck natürlich.
»Was für eine andere Urne?« O’Melvany blieb stehen und rieb seinen Schnauzbart.
»War da noch eine andere Urne?« Die Frau wandte sich an Gerard Falkland.
»Es war tatsächlich noch eine da. Sie hatte einen Haarriß nahe dem Boden. Wir haben sie vielleicht zurückgegeben.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über seine aristokratische Nase. »Warten Sie — sehen wir mal nach. Folgen Sie mir.«
Er fuhr mit ihnen in einem Aufzug, der mit Ausstellungsankündigungen dekoriert war, in den vierten Stock, und schloß mit einem Schlüssel eine Doppeltür von gewaltigen Ausmaßen auf. Sie betraten einen großen fensterlosen Lagerraum, in dem es modrig nach altem Holz und abgenutzten Polstern roch. Es war stockdunkel. Falkland zog an einem großen Hebel, und der Raum war in grelles Licht getaucht.
»Du meine Güte«, stieß Wetzon hervor. Von einem Ende zum anderen waren Möbelstücke fast bis zur Decke übereinandergestapelt. Erinnerungen an Citizen Kane.
»Sie könnte noch hier sein... irgendwo«, murmelte Falkland, der reglos mit suchenden Augen dastand.
Wetzon ging langsam in die geordnete Unordnung hinein. Die bloße Fülle war überwältigend.
»Seien Sie bitte vorsichtig.« Falkland wirkte nun unruhiger.
»Ich sehe sie nicht«, sagte O’Melvany, der sich vorsichtig durch einen anderen Gang bewegte.
»Sie scheint leider nicht mehr hier zu sein«, sagte Falkland. »Wollen wir gehen?«
»Ms. Wetzon?«
»Warten Sie bitte.« Wetzon flitzte in eine Ecke, die sie noch nicht untersucht hatte und blieb mit dem Stiefel am Rand eines abgenutzten Wandteppichs hängen. Eine Staubwolke flog ihr ins Gesicht, als sie sich an dem Teppich festklammerte, um nicht hinzufallen.
»Um Himmels willen! Ich bat Sie doch, vorsichtig zu sein.« Falkland kam aufgebracht durch den Gang auf sie zu.
»Tut mir leid. Also gut... gehen wir«, sagte sie niedergeschlagen. Sie versuchte, den sperrigen Wandteppich abzustützen, um ihn an seinem alten Platz zu verstauen, als er ihr aus der Hand glitt und auf den Boden rutschte, wobei er die Urne freilegte, glänzend und majestätisch, neben einem großen geschnitzten Lehnsessel mit beschädigtem Sitz. Trotz Sprung war sie wunderschön. »Heureka!« rief Wetzon.
»Darf ich?« O’Melvany kam herüber und rückte den Sessel beiseite.
»Bitte sehr.« Falkland sah unbewegt zu, wie O’Melvany die Urne auf den kleinen freien Platz nahe dem Eingang zum Lagerraum rollte. »Es ist nur ein kleiner Haarriß, aber Sie verstehen natürlich, daß wir nichts verkaufen können, das beschädigt ist...«
O’Melvany kippte die Urne, Falkland faßte sie an der Rundung an, und gemeinsam stellten sie sie behutsam auf den Rand. Wetzon hielt den Atem an, als sie sie hochhoben und wieder aufrecht hinstellten.
Auf dem Boden, wo die Öffnung der Urne gewesen war, lag ein kleiner staubiger blauer Gucci-Schuh.
»Soviel Getue wegen eines schmutzigen alten Schuhs!« Smith runzelte die Stirn. Sie legte die Tarock-Karten auf der Marmorplatte ihres Couchtisches aus. Übernervös mit zitternden Händen saß sie auf der Kante des gebrochen weißen Sitzelements. Ihr Nerzmantel war von der Sofalehne gerutscht, wohin sie ihn geworfen hatte, als sie ins Zimmer gekommen war, und lag unordentlich auf dem Boden.
Wetzon kam gerade rechtzeitig aus dem Bad, um Smith über den Gucci-Schuh meckern zu hören, und beschloß, dieses eine Mal klug zu sein und nichts darauf zu sagen. Smith achtete sowieso nicht auf Wetzon. Sie schien völlig in die Karten versunken, beinahe als hätte sie einen Auftrag. Wetzon zog den Rock hoch, machte einen grand plié und hob Smith’ Mantel vom
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