Ruhe unsanft
auf, »ob nicht ein Luftwechsel noch besser…«
»Sie sind gerade drei Wochen unterwegs gewesen.«
»Ja, aber vorwiegend in London, das, wie Sie selbst zugeben, die Nerven angreift, und dann in einem Indus t riegebiet im Norden. Alles kein Ersatz für frische Seeluft, Doktor.«
Dr. Haydock stand auf und packte seine Tasche. Dann wandte er sich schmunzelnd wieder zu Miss Marple um. »Nun sagen Sie schon offen, was ich den Leuten erzählen soll, wenn sie nach Ihnen fragen. Sie wünschen von mir den ausdrücklichen ärztlichen Rat, sich in ein Seebad zu begeben…«
»Ich wusste ja, dass Sie mich verstehen«, sagte Miss Marple dankbar.
»Seeluft – ausgezeichnete Therapie! Also fahren Sie schleunigst nach Eastbourne, sonst könnte Ihre Gesun d heit ernstlich Schaden nehmen.«
»Eastbourne ist meines Wissens ziemlich kalt. Die D ü nen, wissen Sie.«
»Na, dann eben Bournemouth oder die Insel Wight.«
Miss Marple zwinkerte ihm zu. »Ich halte eigentlich mehr von kleineren Badeorten.«
Dr. Haydock setzte sich wieder. »Jetzt machen Sie mich wirklich neugierig. Und welchen kleinen Badeort haben Sie im Auge?«
»Tja… ich denke da zum Beispiel an Dillmouth.«
»Hübsches kleines Nest. Etwas spießig. Warum gerade Dillmouth?«
Miss Marple schwieg sekundenlang. Ihre blauen Augen hatten einen besorgten Ausdruck angenommen. Dann begann sie zögernd:
»Stellen Sie sich mal vor, Sie stießen eines Tages zufällig auf einen Hinweis, dass vor langer Zeit – vor neunzehn oder zwanzig Jahren – ein Mord begangen wurde, der nie entdeckt worden ist und von dem außer Ihnen kein Mensch etwas ahnt. Nie ist ein Verdacht aufgetaucht oder gar gemeldet worden. Was würden Sie tun?«
»Ein Mord, der in der Vergangenheit ruht, meinen Sie?«
»Genau das.«
Haydock überlegte einen Moment.
»Es war doch kein Justizirrtum? Hatte später jemand unter den Folgen dieses Verbrechens zu leiden?«
»Soweit man das bisher beurteilen kann, nein.«
»Hm. Ein unentdeckter Mord, der lange zurückliegt. Ich will Ihnen was sagen: Ich würde ihn ruhen lassen. Schl a fende Hunde soll man nicht wecken. Mit einem Mordfall herumspielen könnte gefährlich werden. Sehr gefährlich sogar.«
»Eben das fürchte ich auch.«
»Es heißt, wer einmal mordet, ist zu weiteren Morden fähig. Das ist nicht unbedingt wahr. Es gibt einen Mö r dertyp, der, einmal davongekommen, verdammt aufpasst, nicht wieder in so eine Situation zu geraten. Ich will nicht sagen, dass er unbeschwert weiterlebt – das halte ich erst recht für unwahr, denn es gibt viele Arten der Vergeltung. Nur nach außen hin geht dann alles gut. Ich könnte zah l reiche Morde nennen, die unentdeckt blieben oder in denen die Täter – meist waren es Täterinnen – mangels Beweisen freigesprochen wurden. Keine beging einen zweiten Mord. Sie hatten mit dem ersten erreicht, was sie wollten, und waren zufrieden. Aber angenommen, ihnen hätte doch noch die Gefahr der Entdeckung gedroht? Der Täter oder die Täterin, von dem Ihr Mord begangen wurde, dürfte zu dem erwähnten Typ gehört haben oder noch gehören. Niemand hat je Verdacht geschöpft. Aber falls er oder sie noch lebt und merkt, dass jetzt, nach all den Jahren, jemand in der alten Geschichte herumst o chert, Steine umdreht und überall nach Spuren schnüffelt und am Ende vielleicht ins Schwarze trifft… Was, me i nen Sie, würde ein solcher aufgeschreckter Mörder dann machen? Lächelnd abwarten und zusehen, wie die Jagd näher und näher kommt? Nein, Miss Marple, wenn’s I h nen nicht wieder mal ums Prinzip geht, würde ich sagen: Halten Sie sich da raus!« Er wiederholte seine Bemerkung von eben: »Schlafende Hunde soll man nicht wecken… Und«, fügte er energisch hinzu, »dies ist eine ärztliche Verordnung: Sie lassen die Finger davon!«
»Es geht nicht um mich, Doktor. Zwei reizende junge Leute sind in die Sache verwickelt. Lassen Sie es mich erzählen!«
Haydock hörte sich alles aufmerksam an. »Seltsam«, meinte er, als Miss Marple geendet hatte, »wirklich eine ungewöhnliche Häufung von Zufällen. Wie ich Sie kenne, durchschauen Sie die Zusammenhänge bereits?«
»Oh, nur einige. Aber ich glaube nicht, dass die jungen Leute schon darauf gekommen sind.«
»Es wird sehr viel Kummer bedeuten, und hinterher werden sie wünschen, sie hätten sich nie auf die G e schichte eingelassen. Skelette sollten begraben bleiben. Trotzdem… Ich verstehe auch den Standpunkt des ju n gen Giles Reed. Zum Teufel, ich könnte
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