Ruhe unsanft
ins Leere.
»Normale Erklärungen gibt es in diesem Fall überhaupt nicht«, sagte Giles. »Dr. Penrose, der ein anständiger Kerl zu sein scheint, denkt offenbar gern das Beste von se i nem damaligen Patienten. Sein erster Eindruck von Ha l liday war aber, dass dieser wirklich gemordet hatte und sich der Polizei stellen wollte. Erst James Kennedys Ve r sicherung, dass dem nicht so war, stimmte ihn um, und nun musste er notgedrungen annehmen, es handle sich um einen Komplex oder eine Fixierung oder wie immer das Fachchinesisch lautet – aber ganz wohl war ihm dabei auch nicht. Er hatte zu viel Erfahrung mit dieser Art von Kranken, und Halliday war nicht der Typ, der eine Frau mit eigenen Händen erwürgt, und sei er auch bis zur Weißglut gereizt. Nichts passt zusammen, und das lässt eigentlich nur eine Theorie übrig: Halliday wurde eing e redet, er habe seine Frau ermordet, und zwar von einem Dritten. Mit anderen Worten, wir sind bei der unbekan n ten Größe X angelangt. Nach reiflicher Überlegung möchte ich diese Annahme als zumindest denkbar b e zeichnen. Laut Hallidays eigener Erzählung kam er a bends nachhause, ging ins Esszimmer, nahm einen Drink, wie er es üblicherweise tat, ging nach nebenan, sah einen Brief auf dem Tisch und hatte plötzlich einen Blackout – eine totale Gedächtnislücke.«
Er hielt inne und sah Miss Marple an, die aufmunternd nickte. Daher fuhr er fort:
»Angenommen, diese Gedächtnislücke war einfach auf ein Betäubungsmittel im Whisky zurückzuführen, so wäre die Folgerung ziemlich klar. X hatte Helen in der Halle erwürgt, sie nachher die Treppe hochgeschleift und die Leiche aufs Bett gelegt, damit es nach einem Verbrechen aus Leidenschaft aussähe und Kelvin sie so fände. Kelvin, der arme Teufel, der vielleicht tatsächlich eifersüchtig war, kommt hinauf und glaubt in seiner Benommenheit, er sei der Mörder. Verstört eilt er zu seinem Schwager ans andere Ende der Stadt, zu Fuß. Das gibt X Zeit für se i nen nächsten Trick, nämlich den Koffer zu packen und verschwinden zu lassen und schließlich auch die Le i che…« Giles unterbrach sich beunruhigt. »Also, was er mit der Leiche gemacht hat, ist mir unerfindlich.«
»Ja? Das wundert mich, Mr Reed«, sagte Miss Marple. »Ich glaube, dieses Problem bietet noch die geringsten Schwierigkeiten. Aber bitte, sprechen Sie weiter.«
»Wer waren die Männer in ihrem Leben?«, sagte Giles. »Wir hatten bei der Rückfahrt nach London eine Aben d zeitung mit dieser Schlagzeile vor der Nase. Sie brachte mich auf den wahrscheinlichen Kernpunkt des Ganzen: Wenn es X, den großen Unbekannten, wirklich gibt, so steht eines fest: Er muss verrückt nach ihr gewesen sein – wortwörtlich verrückt.«
»Folglich hasste er meinen Vater«, fiel Gwenda ein, »und war darauf aus, ihm Schmerz zuzufügen.«
»So kommen wir der Sache schon näher«, sagte Giles. »Wir wissen ja auch einiges über Helens Wesen. Nach allem, was wir gehört haben, war sie…« Er zögerte.
»Mannstoll«, ergänzte Gwenda.
Miss Marple schien eine Bemerkung machen zu wollen, unterließ sie jedoch. Giles fuhr fort:
»… und schön war sie auch. Aber wir wissen immer noch nicht, welche Männer außer Halliday eine Rolle in ihrem Leben spielten. Theoretisch kann sie ja jede Menge Liebschaften gehabt haben.«
Miss Marple schüttelte den Kopf.
»Das wohl kaum. Sie müssen bedenken, wie jung sie war. Außerdem sind Sie jetzt etwas vergesslich, Mr Reed. Wir wissen nämlich etwas über die Männer in ihrem L e ben. Da war der Mann, wegen dem sie nach Indien reiste, um ihn zu heiraten.«
»Ach ja! Der junge Rechtsanwalt, nicht? Wie hieß er noch?«
»Walter Fane.«
»Ja, aber der zählt eigentlich nicht mit. Er blieb in M a laya oder Indien oder sonst wo.«
»Wirklich? Er blieb nicht Teepflanzer«, erklärte Miss Marple, »er kam zurück und trat in die Kanzlei seines Vaters ein, deren Chef er jetzt ist.«
»Ob er ihr nachgereist ist?«, fragte Gwenda.
»Möglich. Das wissen wir nicht.«
Giles sah die alte Dame forschend an. »Woher wissen Sie eigentlich so erstaunlich viel?«
Miss Marple lächelte verlegen.
»Ach, ich habe nur ein wenig herumgehorcht, in Läden, an Bushaltestellen und so weiter. Alte Damen gelten o h nehin als neugierig und schwatzhaft, nicht wahr? Auf diese Weise schnappt man mühelos ein paar Lokalberic h te auf.«
»Walter Fane«, sinnierte Gwenda. »Helen hat ihn sitzen lassen. Das muss ihn ziemlich gewurmt haben. Hat er später
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