Ruhe unsanft
zugab? Konnte sie sich etwa überhaupt nicht offen mit jungen Männern treffen? Es hieß, ihr Bruder sei ›streng‹ und ›altmodisch‹.«
Gwenda erschauerte. »Er war verrückt«, sagte sie, »ve r rückt.«
»Ja, er war nicht normal«, fuhr Miss Marple fort. »Ke n nedy vergötterte seine Halbschwester Helen, und seine Liebe wurde eigensüchtig und ungesund. So etwas g e schieht häufiger, als man denken sollte. Manchmal sind es Väter, die ihren Töchtern nicht erlauben zu heiraten oder sich auch nur mit jungen Männern zu treffen. Als ich die Geschichte mit dem Tennisnetz hörte, fiel mir ein ähnl i cher früherer Fall ein.«
»Wieso?«
»Es schien mir sehr bezeichnend zu sein. Stellen Sie sich Helen als junges Mädchen vor, wie sie gerade aus dem Internat kommt und nun ein bisschen Freude vom Leben haben will, junge Männer kennen lernen und fli r ten möchte…«
»Sie war hinter den Männern her.«
»Nein«, erklärte Miss Marple mit Nachdruck. »Das ist beinahe das Schlimmste an dem ganzen Fall. Dr. Kenn e dy hat Helen nicht nur physisch umgebracht. Wenn Sie sich genau erinnern, kam der einzige Anhaltspunkt, dass Helen mannstoll oder – wie Sie, meine Liebe, es so fein ausdrückten – eine Nymphomanin sei, von Dr. Kennedy. Meiner Meinung nach war sie ein ganz normales junges Mädchen, das nur ein wenig Spaß haben, sich amüsieren und flirten und schließlich mit einem Mann ihrer Wahl glücklich werden wollte – nicht mehr und nicht weniger. Nun sehen Sie, was ihr Bruder dagegen unternahm. Z u erst war er streng und altmodisch und erlaubte gar nichts. Als sie Tennis spielen wollte – ein höchst normaler und harmloser Wunsch –, gab er zunächst nach und zerschnitt dann eines Nachts heimlich das Tennisnetz, eine sehr bezeichnende und sadistische Tat. Dann, da sie immer noch zu anderen Leuten eingeladen werden konnte, nut z te er die Gelegenheit, als sie sich an einer herumliegenden Harke den Fuß aufschürfte, und behandelte die Schra m me so geschickt, dass sie nicht heilte. O ja, ich glaube, dass er das getan hat. Eigentlich bin ich sogar sicher.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich denke nicht, dass Helen irgendetwas gemerkt hat. Sie wusste, dass ihr Br u der sie sehr liebte, und konnte sich nicht erklären, warum sie sich zuhause so unbehaglich fühlte. Deshalb beschloss sie schließlich, nach Indien zu fahren und den jungen Fane zu heiraten – nur um wegzukommen. Doch wovor floh sie? Helen war zu jung und unerfahren, um die wa h ren Gründe ihres Unbehagens zu erkennen. Sie fuhr also nach Indien, und auf dem Schiff lernte sie Richard Ersk i ne kennen und verliebte sich in ihn. Und auch hier b e nahm sie sich nicht wie eine mannstolle Person, sondern wie ein nettes, anständiges Mädchen. Sie drängte ihn nicht, seine Frau zu verlassen. Sie wollte sogar, dass er bei seiner Familie blieb. Doch als sie Walter kurz danach wiedersah, erkannte sie, dass sie ihn nicht heiraten kon n te, und in ihrer Ratlosigkeit schickte sie ihrem Bruder ein Telegramm und bat ihn, ihr das Geld für die Rückreise zu schicken.
Auf der Heimfahrt begegnete sie Ihrem Vater, meine Liebe, und da zeigte sich ihr ein anderer Ausweg. Und diesmal glaubte sie, dass sie in gewissen Grenzen glüc k lich werden könnte.
Sie hatte Ihren Vater nicht unter falschen Vorspieg e lungen geheiratet, Gwenda. Kelvin Halliday trauerte noch um seine geliebte Frau, Helen erholte sich gerade von einer unglücklichen Liebesaffäre. Sie konnten sich gege n seitig trösten und helfen. Ich halte auch für bedeutsam, dass sie in London heirateten und erst dann nach Dil l mouth kamen, um Dr. Kennedy die Neuigkeit beizubri n gen. Helen muss instinktiv geahnt haben, dass es so kl ü ger war, obwohl sie sich üblicherweise in Dillmouth hätte trauen lassen müssen. Sicherlich begriff sie die Wahrheit immer noch nicht, sie hielt es einfach für besser, ihn vor die vollendete Tatsache zu stellen.
Kelvin Halliday kam seinem Schwager sehr herzlich entgegen, und dieser scheint sein möglichstes getan zu haben, Freude über das Glück des jungen Paares zu ze i gen. So zogen die Hallidays in ein Haus in Dillmouth.
Und nun kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt – der Behauptung, Kelvin Halliday habe von seiner Frau Betäubungsmittel bekommen. Dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen, weil nur zwei Personen eine Gel e genheit dazu hatten. Entweder Helen setzte ihren Mann tatsächlich unter Drogen – und wenn ja, warum? –, oder Dr. Kennedy
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