Ruhe unsanft
sie liegt tatsächlich da draußen, Gwenda.«
Dann telefonierte jemand nach dem Polizeiarzt. Es war ein kleiner rühriger Mann, der bald danach eintraf.
Ausgerechnet in diesen Minuten ging Mrs Cocker, die würdige, unerschütterliche Mrs Cocker, hinaus in den Garten, nicht etwa aus verabscheuungswürdiger Neugier, wie man hätte annehmen können, sondern um ein paar Küchenkräuter für das Mittagessen zu holen. Mrs Cocker, deren Reaktion auf den Mordfall am Vortag vor allem in einer tadelnden Miene und in Besorgtheit um Gwendas Gesundheit bestanden hatte (denn sie glaubte fest, dass das Kinderzimmer nach Ablauf der entsprechenden A n zahl von Monaten wieder einen Bewohner haben würde), war beinahe über den grauenvollen Fund gestolpert und in höchstem Maße durcheinander.
»Entsetzlich, Madam, schrecklich! Den Anblick von Knochen kann ich nicht ertragen! Jedenfalls nicht von einem Skelett, und dazu hier im Garten, dicht neben der Pfefferminze und so! Mein Herz rast bloß so, ganz unr e gelmäßig, ich kriege kaum Luft. Wenn ich so frei sein darf, Madam, ein Gläschen Brandy…«
Ihr Keuchen und ihr aschgraues Gesicht waren wirklich alarmierend. Gwenda stürzte zur Anrichte, nahm die Brandykaraffe, goss ein Glas ein und brachte es Mrs C o cker.
»Danke, Madam«, hatte Mrs Cocker geächzt, »das ist genau, was ich brauche…« Aber sie hatte kaum daran genippt, als ihre Stimme plötzlich vollends versagte und ihr Gesicht sich so verzerrte, dass Gwenda entsetzt nach Giles rief, und Giles holte den Polizeiarzt, und dieser sagte später: »Ein Glück, dass ich noch da war! Es stand auf des Messers Schneide. Ohne fachkundige Hilfe wäre sie auf der Stelle gestorben.«
Und dann hatte Inspektor Primer die Brandykaraffe b e schlagnahmt und mit dem Doktor darüber diskutiert, und dann hatte er Gwenda gefragt, wann sie oder Giles zum letzten Mal Brandy getrunken hätten.
Gwenda sagte, das müsse schon eine ganze Weile her sein. In den letzten Tagen seien sie viel unterwegs gew e sen. »Aber«, erinnerte sie sich plötzlich, »gestern Abend hätte ich beinahe welchen getrunken, weil mir nach der Geschichte mit Lily Kimble so übel war. Ich mag aber keinen Brandy, und Giles hat deshalb eine Flasche Whi s ky aufgemacht.«
»Ihr Glück, Mrs Reed. Sonst wären Sie heute wah r scheinlich nicht mehr am Leben.«
»Giles hätte beinahe davon getrunken«, sagte Gwenda schaudernd. »Aber dann haben wir uns beide lieber einen heißen Whisky mit Zitrone machen lassen.«
Das alles war so entsetzlich und unbegreiflich, dass Gwenda noch jetzt kaum an die aufregenden Ereignisse des Vormittags glauben konnte. Sie war allein in »Hills i de«. Giles war nach einem hastigen Mittagessen aus D o sen zum Polizeirevier mitgefahren, Mrs Cocker hatte man ins Krankenhaus gebracht.
Eins stand jedenfalls fest, dachte Gwenda: dass Walter Fane und Jack Afflick gestern Nachmittag im Hause g e wesen waren. Jeder von ihnen konnte mit dem Brandy herumgespielt haben, und was sollten die mysteriösen Telefonanrufe anderes bezwecken, als einem von beiden die Gelegenheit zu geben, den Brandy in der Karaffe zu vergiften? Sie und Giles waren der Wahrheit zu nahe g e kommen. Oder gab es noch eine dritte Person, die – möglicherweise durchs offene Esszimmerfenster – eing e drungen war, während sie bei Dr. Kennedy saßen und auf Lily Kimble warteten? Eine dritte Person, die beide Anr u fe fingiert hatte, um den Verdacht auf die andern beiden zu lenken?
Aber, dachte Gwenda, das ergab keinen Sinn. Derjenige hätte sicherlich nur einen von beiden angerufen; mehr Verdächtige brauchte er nicht. Und wer sollte dieser dri t te sein? Erskine war zuhause in Northumberland gese s sen. Nein, entweder hatte Walter Fane Jackie Afflick a n gerufen oder umgekehrt. Die Polizei, die über bessere Hilfsmittel verfügte als sie und Giles, würde schon h e rausbringen, welcher. Und inzwischen würden alle beide beobachtet und konnten es nicht noch einmal versuchen.
Gwenda fröstelte. Es war nicht so einfach, sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass man beinahe selbst einem Mordanschlag zum Opfer gefallen wäre. Miss Marple hatte sie von Anfang an gewarnt, aber sie und Giles ha t ten an Gefahr einfach nicht geglaubt. Selbst nach Lily Kimbles gewaltsamem Tod hatten sie nicht daran g e dacht, dass ihnen Ähnliches zustoßen könnte, nur weil sie der Wahrheit zu nahe gekommen waren.
Walter Fane oder Jackie Afflick – welcher von den be i den? Gwenda schloss die Augen und
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