Ruhe unsanft
Haustür zug e schlagen. Jemand war hereingekommen. Gwenda eilte aus dem Badezimmer und zur Treppe. Sie beugte sich übers Geländer. Zu ihrer Erleichterung war es Dr. Kennedy.
»Ich bin hier oben«, rief sie hinunter.
Ihre Hände in den Gummihandschuhen ruhten auf dem Geländer – feucht, glänzend, seltsam graurosa. Sie erinnerten sie an irgendetwas…
Kennedy blickte, die Augen mit der Hand beschattend, zu ihr hoch.
»Sind Sie das, Gwennie? Ich kann Ihr Gesicht nicht e r kennen. Vor meinen Augen flimmert es von der Helli g keit draußen…«
Und da schrie Gwenda.
Sie sah die glatten Affenpfoten vor sich und hörte jene Stimme in der Halle…
»Sie waren es!«, keuchte sie. »Sie haben sie umg e bracht… Sie haben Helen getötet! Jetzt weiß ich es wi e der. Sie waren es… die ganze Zeit… Sie…«
Kennedy kam langsam die Treppe herauf und ließ sie nicht aus den Augen.
»Warum konntest du mich nicht in Ruhe lassen?«, sagte er leise. »Warum musstest du dich einmischen? Warum musstest du sie zurückholen? Gerade als ich endlich a n fing, sie zu vergessen… Helen… Du hast alles wieder aufgewühlt. Dafür töte ich dich… wie ich Lily getötet habe… wie ich Helen getötet habe… meine Helen…«
Er kam immer näher. Schon streckte er die Hände aus. Sein freundliches, nicht mehr junges Gesicht sah aus wie immer. Nur die Augen – in seinen Augen stand der Wahnsinn…
Langsam wich Gwenda vor ihm zurück. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. Sie hatte nur einmal g e schrien, jetzt brachte sie keinen Laut mehr heraus. Es hätte sie sowieso niemand gehört.
Denn außer ihr und dem Mörder war niemand im Haus, weder Giles noch Mrs Cocker. Nicht einmal Miss Marple hatte Gwenda im Garten gesehen, und die nächsten Nachbarn wohnten zu weit entfernt, um sie zu hören, selbst wenn sie geschrien hätte. Aber sie konnte ohnehin nicht schreien, weil sie zu viel Angst hatte. Angst vor di e sen entsetzlichen Händen, die sich nach ihr ausstreckten…
Sie konnte vor ihm zurückweichen, und er würde ihr folgen, bis sie mit dem Rücken zur Tür zum Kinderzi m mer stand, und dann – dann – würden sich diese Hände um ihren Hals legen…
Ein kleiner kläglicher Jammerlaut kam über ihre Li p pen.
Da blieb Dr. Kennedy plötzlich stehen und taumelte zurück. Ein Strahl Seifenlauge traf ihn zwischen den A u gen. Er rang nach Luft, blinzelte und schlug die Hände vors Gesicht.
»So ein Glück«, sagte Miss Marple ziemlich atemlos, weil sie gerade die Hintertreppe hinaufgelaufen war, »dass ich eben dabei war, die Blattläuse von Ihren Rosen zu spritzen.«
25
» A ber meine liebe Gwenda«, sagte Miss Marple, »selbstverständlich hätte ich nicht im Traum daran gedacht, Sie allein im Haus zu lassen. Ich wusste, dass ein sehr gefährlicher Mann frei herumlief, und habe vom Garten aus alles unauffällig im Auge b e halten.«
»Ahnten Sie schon die ganze Zeit, dass er es war?«, fra g te Gwenda.
Dieses Gespräch wurde auf der Terrasse des »Imperial« in Torquay geführt, wo sie zu dritt zusammensaßen. Miss Marple hatte gemeint, ein Tapetenwechsel würde das Beste für Gwenda sein, und Giles hatte ihr zugestimmt. Inspektor Primer brauchte sie nicht mehr.
»Nun ja«, antwortete Miss Marple jetzt auf Gwendas Frage, »ich hatte ihn sehr früh im Verdacht. Leider gab es zunächst gar keine Beweise, nur gewisse Anhaltspunkte, sonst nichts.«
Giles musterte sie neugierig. »Was für Anhaltspunkte? Ich sehe nicht mal die!«
»Lieber Giles, überlegen Sie doch! Erstens war er am Ort des Geschehens.«
»Wieso?«
»Aber ja. Erinnern Sie sich nicht? Als Kelvin Halliday ihn an jenem Abend aufsuchte, war Kennedy gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Das Krankenhaus lag d a mals, wie wir von verschiedenen Leuten gehört haben, gleich neben ›St. Catherine‹, wie Ihr Haus noch hieß. Er war also zur richtigen Zeit am passenden Ort. Und dazu kommen noch hundert kleine, bedeutsame Einzelheiten. Helen hatte Erskine auf dem Schiff erzählt, sie fahre nach Indien, weil sie zuhause unglücklich sei. Das heißt also, sie lebte nicht gern bei ihrem Bruder. Doch nach allen Berichten, die wir hatten, war ihr Bruder ihr sehr ergeben. Warum war sie also nicht glücklich? Mr Afflick erzählte Ihnen, das arme Mädchen habe ihm leidgetan, und ich glaube, dass es die Wahrheit war. Helen tat ihm wirklich leid. Warum traf sie den jungen Afflick damals heimlich, obwohl sie nicht besonders verliebt in ihn war, wie er selbst
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