Ruhelos
Schnippchen.
Romer, so überlegte sie, wäre niemals auf ihr ehrlich gemeintes Angebot eingegangen, die Nacht mit ihr zu verbringen, nicht für eine Sekunde. Er musste davon ausgehen, dass sie ihn verdächtigte, dass sie nicht an Morris’ Selbstmord glaubte, und wahrscheinlich war ihm auch klar, dass es vorbei war, als sie im Korridor vor Morris’ Wohnung erschien, und daher kam sein Vorschlag, sich um zehn mit ihr zu treffen, fast einer Aufforderung zur Flucht gleich. Jetzt begriff sie auch, dass sie keinen Vorsprung hatte, keine Stunde, nicht mal eine halbe – sie hatte überhaupt keine Zeit mehr.
Im nächsten Moment verließ sie das Fluchtquartier – ob Romer die Adresse kannte? Wohl kaum, dachte sie, vergewisserte sich aber auf der Straße, dass ihr niemand folgte. Ihren Eve-Dalton-Pass schob sie in einen Gully; sie hörte es sanft platschen, als er ins Wasser fiel. Jetzt war sie Margery Allerdice – und natürlich kannte Romer den Namen, so wie alle anderen Decknamen, die er seinen Agenten zuteilte –, sehr weit würde sie als Margery Allerdice nicht kommen.
Aber wohin sollte sie? Ich habe zwei klare Alternativen, überlegte sie, als sie zum U-Bahnhof eilte. Südwärts nach Mexiko oder nordwärts nach Kanada. Wie von selbst stellte sich die Frage, was Romer von ihr erwarten würde. Sie war gerade an der mexikanischen Grenze gewesen – würde er vermuten, dass sie sich dorthin wendete, oder nach Norden, in die entgegengesetzte Richtung? Ein Taxi fuhr vorbei, sie stoppte es. Penn Station, bitte, sagte sie – das hieß südwärts, nach Mexiko; die bessere Entscheidung, denn sie wusste, wie und wo man über die Grenze kam.
Während der Fahrt klopfte sie den Plan auf seine Tauglichkeit ab. Mit dem Zug fahren – war das klug? Er würde nicht vermuten, dass sie den Zug nahm: Es war zu naheliegend, zu leicht kontrollierbar, man konnte sie bequem in die Falle locken. Nein, Romer würde auf Bus oder Auto tippen, also brachte ihr die Fahrt mit dem Zug einen beträchtlichen Zeitgewinn. Bei der Überquerung des East River, die hell erleuchteten Hochhäuser von Manhattan vor Augen, versetzte sie sich weiter in Romer und seine Art zu denken – nur so konnte sie ihr Überleben sichern, wie ihr nun bewusst war. Eva Delektorskaja gegen Lucas Romer. Es würde nicht leicht werden, denn schließlich hatte er sie ausgebildet; alles, was sie konnte, hatte sie ihm zu verdanken, hatte er ihr auf die eine oder andere Weise beigebracht. Also galt es jetzt, seine Methoden, seine Tricks und Kniffe gegen ihn zu wenden … Aber sie brauchte ein bisschen mehr Zeit, wie sie verzagt feststellte, nur einen oder zwei Tage Vorsprung, damit sie ihre Spuren verwischen, ihm Hindernisse in den Weg legen konnte … Sie schmiegte sich tiefer in den Rücksitz, die Novembernacht war kalt – ein bisschen mexikanische Sonne wäre jetzt willkommen, dachte sie, ein bisschen brasilianische Hitze. Da wusste sie, dass sie nach Norden musste. Sie streckte den Arm aus und tippte dem Fahrer auf die Schulter.
Am Grand Central verlangte sie eine Fahrkarte nach Buffalo – dreiundzwanzig Dollar – und schob zwei Zwanziger durch. Der Beamte zählte ihr das Wechselgeld hin und gab ihr die Fahrkarte. Sie bedankte sich und trat beiseite, bis er zwei weitere Leute bedient hatte, dann ging sie zurück an den Schalter, unterbrach die nächste Transaktion und sagte: »Sie haben mir auf vierzig Dollar herausgegeben. Es waren aber fünfzig.«
Das Aufsehen, das sie damit erregte, war beeindruckend. Der Beamte, ein Mann mittleren Alters, dessen Mittelscheitel wie mit dem Rasiermesser gezogen war, wich und wankte nicht. Ein Vorgesetzter wurde gerufen; Eva verlangte den Inspektor zu sprechen. Die Wartenden in der Schlange wurden unruhig – »Nun machen Sie mal hin, Lady!«, rief jemand –, und Eva rief zurück, dass man sie um zehn Dollar betrogen habe. Als sie zu weinen begann, führte sie der Vorgesetzte in ein Büro, wo sie sich alsbald beruhigte. Sie werde ihre Anwälte einschalten, versicherte sie und verlangte den Namen des Vorgesetzten – Enright – und des Schalterbeamten – Stefanelli – und kündigte an, dass die Sache ein Nachspiel haben werde, jawohl, meine Herren: Wenn die Delaware & Hudson Railway ihre unschuldigen Fahrgäste ausrauben wolle, müsse man schließlich dagegen angehen und sich zur Wehr setzen.
Sie lief quer durch die große Bahnhofshalle zurück und war sehr zufrieden mit sich – erstaunlich, wie leicht es ihr gelang, echte
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