Ruhelos
Stunde Zeit.
Für eine Rückkehr in ihr Apartment war es zu spät, entschied sie. Um ihre Flucht abzusichern, musste sie alles stehen und liegen lassen. Während sie auf die U-Bahn wartete, prüfte sie den Inhalt ihrer Handtasche: der Pass auf Eve Dalton, um die dreißig Dollar, eine Packung Zigaretten, Lippenstift und Puderdose. Reicht das aus, um ein neues Leben zu beginnen?, fragte sie sich mit wehmütigem Lächeln.
Als sie im Zug nach Brooklyn saß, nahm sie sich das letzte Zusammentreffen mit Romer vor und bedachte gründlich und systematisch, was sich daraus folgern ließ. Warum war sie plötzlich so sicher, dass Romer irgendwie hinter den Geschehnissen von Las Cruces und hinter dem Tod von Morris Devereux steckte? Irrte sie sich etwa? … Vielleicht war es Angus Woolf? Oder hatte Morris ihr eine raffinierte Falle gestellt und dann den Unschuldigen gespielt? Klar war aber, dass Morris nicht Selbstmord begangen hatte. Man trifft keine lebenswichtige Verabredung und beschließt dann, sie platzen zu lassen, indem man sich umbringt. Allerdings hatte sich Romer nicht verdächtig gemacht, das musste sie zugeben – aber woher dann ihre unerschütterliche Gewissheit? Woher das Gefühl, dass sie fliehen musste, auf der Stelle, als hinge ihr Leben davon ab? Die Redensart verstörte sie, trieb ihr Schauder über den Rücken, aber sie stimmte: Ihr Leben hing davon ab, dass sie rechtzeitig floh. Der entscheidende Punkt für Morris, der Schlüssel für seine Erkenntnis war gewesen, dass sie die Karte nicht an Raul übergeben hatte. Warum hatte sie die Karte nicht an Raul übergeben? Weil sie sie geprüft und für minderwertig befunden hatte. Wer hatte ihr befohlen, die Ware zu prüfen? Niemand.
Sie hörte Romers Stimme, die Stimme ihres Geliebten, als würde er neben ihr stehen. »Die Umsicht und Tatkraft unserer Miss Dalton darf man nicht unterschätzen, eh?«
Das war es, was bei ihr den Funken gezündet hatte. In dem Moment wusste sie, worauf Morris gestoßen war. Sie überschaute nicht das große Ganze, worauf die Sache hinauslaufen sollte, aber während sie vor dem Apartment des armen Morris mit Romer gesprochen hatte, war ihr klar geworden, dass Romer sie im absolut sicheren Wissen nach Las Cruces geschickt hatte, dass sie niemals und unter keinen Umständen eine Ware übergeben würde, ohne sie einer Prüfung zu unterziehen. Er kannte sie, er wusste genau, was sie in einer solchen Situation tun würde, und bei dem Gedanken, dass sie so leicht durchschaut, so sicher kalkuliert und manipuliert werden konnte, stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Aber warum soll ich mich schämen, sagte sie sich mit einer Aufwallung von Wut. Romer wusste, dass sie nicht als Kurier zu gebrauchen war, der mechanisch seinen Auftrag erfüllte, gerade deshalb hatte er ihr ja den Job angetragen. Es war genauso wie in Prenslo – sie handelte auf eigene Initiative, passte sich der Lage an, fällte ihre eigenen Entscheidungen, wenn es hart auf hart kam. Dasselbe bei Mason Harding. Ihr Kopf begann zu schwirren: Das war ja, als hätte er sie auf die Probe gestellt, um abschätzen zu können, wie sie sich in solchen Situationen verhielt. Hatte Romer vielleicht auch die Krähen auf sie angesetzt, im Wissen, dass sie sie abschütteln würde – und damit ihr Misstrauen zu wecken? Sie fühlte sich ausmanövriert wie bei einer Schachpartie mit einem Großmeister, der ihr immer zehn, zwanzig Züge voraus war. Aber warum sollte sich Romer ihren Tod wünschen?
In ihrem Fluchtquartier in Brooklyn angekommen, ging sie geradewegs ins Badezimmer, hob das Medizinschränkchen von der Wand, entfernte einen losen Ziegelstein und nahm den auf Margery Allerdice ausgestellten Pass und ein Bündel Dollarnoten heraus: Sie hatte fast dreihundert Dollar gespart. Als sie das Schränkchen wieder aufhängte, hielt sie inne.
»Nein, Eva«, sagte sie laut.
Sie durfte nicht vergessen, dass sie es mit Lucas Romer zu tun hatte, einem Mann, der sie nur zu gut kannte, so gut wie niemand sonst auf der Welt, wie es schien. Sie musste sich setzen; ihr wurde schwindlig bei dem Gedanken, der ihr plötzlich gekommen war: Romer wollte ihre Flucht, er erwartete nichts anderes – denn wenn sie unterwegs war, ohne eigenes Refugium, hatte er sie viel besser im Griff. Also denk nach, sagte sie sich, denk nicht zweimal um die Ecke, sondern dreimal. Versetz dich in seinen Kopf, geh davon aus, was er über dich denkt und weiß, Eva Delektorskaja – und dann schlag ihm ein
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