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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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Tränen zu produzieren. An einem etwas weiter entfernten Schalter kaufte sie eine weitere Fahrkarte, diesmal nach Burlington. Der letzte Zug fuhr in drei Minuten – sie rannte zum Bahnsteig und erreichte den Zug dreißig Sekunden vor Abfahrt.
    Während die Lichter der Vorstädte vorbeizogen, versuchte sie ein weiteres Mal, sich in Romer hineinzuversetzen. Wie würde er das Spektakel am Fahrkartenschalter bewerten? Er würde wissen, dass es inszeniert war – diesen Trick, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatten sie in der Ausbildung mehrfach geprobt: Beim Kauf einer Fahrkarte zur kanadischen Grenze erregt man künstlich Aufsehen, weil man gerade nicht dorthin fahren wird. Aber Romer würde nicht darauf hereinfallen – zu durchsichtig –, jetzt würde er die Südrichtung ganz und gar vernachlässigen. Nein, Eva, würde er sich sagen, nach El Paso oder Laredo fährst du nicht – du willst nur, dass ich das glaube. In Wirklichkeit fährst du nach Kanada. Romer würde den doppelten Bluff sofort erraten, aber dann – weil man die Umsicht und Tatkraft unserer Eva Delektorskaja nicht unterschätzen durfte – würden ihm auch gleich Zweifel kommen: Nein, nein … das ist vielleicht ein dreifacher Bluff. Sie will mich glauben machen, dass sie nach Kanada fährt, und fährt in Wirklichkeit nach Mexiko. Eva hoffte, damit recht zu behalten. Romers Schlauheit war ebenso wenig zu unterschätzen – konnte sie ihn mit einem Vierfach-Bluff übertrumpfen? Sie verließ sich darauf. Er würde dieselbe Überlegung anstellen und dann denken: Im Winter fliegen die Vögel gen Süden.
    Am Bahnhof von Burlington machte sie einen Anruf bei Paul Witoldski in Franklin Forks. Es war nach Mitternacht.
    »Wer ist da?« Witoldskis Stimme klang gereizt.
    »Ist dort die Bäckerei Witoldski?«
    »Nein, hier ist die Wäscherei Witoldski.«
    »Kann ich mit Julius sprechen?«
    »Hier gibt es keinen Julius.«
    »Hier ist Eve«, sagte sie.
    Schweigen. Dann sagte Witoldski: »Hab ich eine Besprechung verpasst?«
    »Nein. Ich brauche Ihre Hilfe, Mr Witoldski. Es ist dringend. Ich warte am Bahnhof Burlington.«
    Wieder Schweigen, dann: »In dreißig Minuten bin ich dort.«
    Während sie auf Witoldski wartete, dachte sie sich: Man rät uns, befiehlt, bittet, bekniet uns, nie jemandem zu trauen, was alles sehr gut sein mag, aber manchmal gerät man in Situationen, wo einem nur noch das Vertrauen weiterhilft. Sie musste sich jetzt auf Witoldski verlassen, obwohl Johnson in Meadowville der geeignetere Mann gewesen wäre – und auch ihn fand sie vertrauenswürdig –, aber Romer war mit ihr zusammen nach Meadowville gefahren. An irgendeinem Punkt seiner Nachforschungen würde er Johnson anrufen; er kannte zwar auch Witoldski, aber bei Johnson würde er es zuerst versuchen, und das konnte ihr ein paar Stunden Vorsprung sichern.
    Sie sah einen verdreckten Lieferwagen mit der Aufschrift »WXBQ Franklin Forks« auf den Parkplatz fahren. Witoldski war unrasiert, er hatte eine Plaidjacke an, dazu eine Hose, die aussah wie das Ölzeug, das Fischer trugen.
    »Haben Sie Probleme?«, fragte er und hielt Ausschau nach ihrem Koffer.
    »Ich sitze in der Patsche«, gestand sie. »Ich muss noch diese Nacht nach Kanada.«
    Er dachte nach und rieb sich das Kinn, dass sie das schabende Geräusch der Stoppeln hörte.
    »Sagen Sie nichts mehr«, befahl er und öffnete ihr den Wagenschlag.
    Sie fuhren nordwärts, fast ohne ein Wort zu sprechen; er hatte eine Bierfahne und roch muffig – nach alten Decken vielleicht, oder wie ein Mann, der sich lange nicht gewaschen hat –, aber sie beklagte sich nicht. An einer Tankstelle in Champlain tankte er auf und fragte, ob sie hungrig sei. Auf ihr Nicken kaufte er ihr eine Packung Feigenbrote. Sie aß drei davon, eins nach dem anderen, während sie westwärts fuhren, nach Chateaugay, wie die Wegweiser besagten, aber kurz bevor sie dort eintrafen, bog er auf eine Schotterstraße ab und fuhr durch Nadelwälder bergauf, bis sich die Straße zum Pfad verengte und die Zweige mit blechernem Rascheln am Auto entlangstreiften. Das ist ein Jagdweg, erklärte Witoldski. Sie nickte kurz ein und träumte von Feigen und Feigenbäumen in der Sonne, bis das Auto mit einem Ruck zum Stehen kam.
    Es war kurz vor Tagesanbruch, die schmutzigen Silberstreifen am Himmel ließen die Bäume noch schwärzer erscheinen. Witoldski zeigte auf eine Einmündung, die von den Scheinwerfern erhellt wurde.
    »Wenn Sie diese Straße hinuntergehen, sind Sie nach

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