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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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einer Meile in Sainte-Justine.«
    Sie stiegen aus, die Kälte traf Eva wie ein Schlag. Sie sah, dass Witoldski ihre leichten Stadtschuhe musterte. Er ging nach hinten, öffnete die Hecktür und kam mit einem Schal und einem alten speckigen Pullover zurück, den sie unter ihren Mantel zog.
    »Sie sind in Kanada«, sagte er. »Provinz Quebec. Hier wird Französisch gesprochen. Können Sie Französisch?«
    »Ja.«
    »Blöde Frage.«
    »Ich möchte Ihnen gern etwas bezahlen«, sagte sie, »für das Benzin und für Ihre Zeit.«
    »Spenden Sie’s der Wohlfahrt, kaufen Sie eine Kriegsanleihe.«
    »Wenn jemand kommt und sich nach mir erkundigt, können Sie die Wahrheit sagen«, erklärte sie ihm. »Es gibt nichts zu verbergen.«
    »Ich hab Sie nie gesehen«, erwiderte er. »Wer sind Sie überhaupt? Ich war Fischen.«
    »Danke«, sagte Eva und überlegte, ob sie den Mann umarmen sollte. Aber er streckte die Hand aus, und sie tauschten einen kurzen Händedruck.
    »Alles Gute, Miss Dalton.« Er kletterte in sein Auto, wendete an der Einmündung und fuhr davon. Sie blieb in einer Dunkelheit zurück, die so absolut war, dass sie nicht wagte, auch nur einen Schritt zu gehen. Aber langsam passten sich ihre Augen an, und sie erkannte die zerklüfteten Baumspitzen vor dem heller werdenden Himmel, dann auch das bleiche Band der Straße. Sie wickelte sich Witoldskis Schal fester um den Hals und machte sich auf den Weg nach Sainte-Justine. Jetzt bin ich wirklich auf der Flucht, dachte sie, jetzt bin ich ins Ausland geflohen, und zum ersten Mal fühlte sie sich ein wenig sicherer. Es war ein Sonntagmorgen, wie ihr nun klar wurde, während sie auf das Knirschen ihrer Schritte im Schotter lauschte und während die ersten Vögel erwachten – Sonntag, der 7. Dezember 1941.

11
Aggressives Betteln
    Ich schloss die Küchentür ab – Ilse und Ludger waren unterwegs, irgendwo in Oxford, und ich wollte mich nicht von ihnen überraschen lassen. Es war Mittag, ich hatte eine Stunde Zeit, bis Hamid kam. Mir war seltsam zumute, als ich die Tür zu Ludgers und Ilses Zimmer öffnete – zu meinem Esszimmer immerhin –, und ich musste mir erst klarmachen, dass ich keinen Fuß hineingesetzt hatte, seit Ludger bei mir hauste.
    Das Zimmer sah aus, als wäre es seit einem Monat von Flüchtlingen bewohnt. Es roch nach alten Kleidern, Zigaretten und Räucherstäbchen. Auf dem Boden lagen zwei Luftmatratzen mit geöffneten Armeeschlafsäcken, die uralt aussahen, khakifarben, faltig, fast wie Lebewesen oder abgestreifte Häute, riesige Gliedmaßen, die in Verwesung übergegangen waren. Hier und da stapelten sich Lebensmittel und Getränke – Thunfisch- und Sardinenbüchsen, Cider und Dosenbier, Schokoriegel und Kekse –, als hätten sich die Bewohner auf eine längere Belagerung eingestellt. Tische und Stühle waren an die Wand geschoben und dienten als provisorische Garderobe -Jeans, Hemden, Flatterhemden, Unterhosen bedeckten alle Flächen, hingen über jede Kante, jede Stuhllehne. In einer anderen Ecke sah ich die Reisetasche, mit der Ludger gekommen war, und einen sperrigen Rucksack – ebenfalls Armeeausrüstung –, der vermutlich Ilse gehörte.
    Ich schaute mir sehr sorgfältig an, wie er an die Wand gelehnt war, und erst, als ich ihn öffnen wollte, kam mir in den Sinn, dass sie vielleicht Fallen angebracht hatte. »Fallen«, sagte ich laut und rang mir ein ironisches Lachen ab: Ich beschäftige mich zu viel mit der Vergangenheit meiner Mutter, sagte ich mir – und musste doch gestehen, dass ich gerade im Begriff war, das Zimmer meiner Logiergäste heimlich zu durchsuchen. Ich löste die Schnalle und kramte im Rucksack: ein paar zerfledderte Taschenbücher (deutsche, von Stefan Zweig), eine Polaroid, ein arg mitgenommener Teddybär mit dem aufgestickten Namen »Uli«, etliche Packungen Kondome und ein halbziegelgroßer Packen, der in Alufolie gewickelt war. Ich wusste und roch gleich, was es war: Hasch, Marihuana. Als ich die Folie ein wenig löste, sah ich die dunkle, schokoladenartige Masse. Ich nahm ein winziges Bröckchen zwischen Daumen und Zeigefinger und kostete – warum, weiß ich selbst nicht. War ich etwa ein Drogenkenner und Spezialist, der die Sorte am Geschmack erkannte? Nein, nicht im Mindesten, obwohl ich mir von Zeit zu Zeit einen Joint gönnte, aber so etwas machte man wohl, wenn man heimlich in den Sachen anderer Leute herumschnüffelte. Ich schloss die Folie wieder und tat alle Sachen in den Rucksack zurück. Dann öffnete ich

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