Ruhelos
richtig empört und revolutionär zu geben. Es gab viel Gelächter, Gegrinse, Geplänkel – trotzdem war ich beeindruckt: Das war die größte politische Demonstration, die ich in Oxford je erlebt hatte. Ich dachte an meine Hamburger Zeiten, an Karl-Heinz und all die leidenschaftlichen, zornigen Aufmärsche und Demos, an denen wir teilgenommen hatten, und meine Stimmung fiel deutlich ab.
Ich entdeckte Hamid in einer Gruppe von Iranern, die unter Anleitung des Megaphons Parolen riefen und mit Emphase die Finger reckten. Die englischen Studenten mit ihren Tarnjacken und Palästinensertüchern sahen wie Amateure aus; für sie war der Protest eine willkommene Abwechslung vom Studienalltag – ein kleiner Spaß am Abend.
Ich schaute mir die Menge an, die schwitzenden, überforderten Polizisten, die versuchten, den halbherzigen Ansturm der Protestierenden im Zaum zu halten. Von den Mannschaftswagen, die vor dem Keble College parkten, näherte sich ein weiterer Trupp Polizisten – die Schah-Schwester konnte nicht mehr weit sein. Dann sah ich Frobisher – er stand mit Reportern und Pressefotografen auf einer niedrigen Mauer und knipste munter in die Menge der Demonstranten hinein. Ich drehte ihm schnell den Rücken zu und stieß fast mit Ludger und Ilse zusammen.
»He, Ruth«, sagte Ludger mit seinem breiten Lächeln, offenbar erfreut, mich zu sehen. »Und Jochen auch. Ist ja toll! Nimm dir ein Ei.«
Er und Ilse hatten je zwei Zwölferpackungen Eier, die sie an die Demonstranten verteilten.
Jochen nahm sich vorsichtig eins heraus. »Was soll ich damit machen?«, fragte er verlegen – mit Ludger war er nie warm geworden, obwohl der unablässig mit ihm plauderte und scherzte, aber er mochte Ilse. Ich nahm mir auch ein Ei, um ihm Mut zu machen.
»Wenn du die reiche Lady aus der Limousine steigen siehst, musst du sie damit bewerfen«, sagte Ludger.
»Warum?«, fragte Jochen, eine vernünftige Frage, wie mir schien, aber bevor ihm jemand eine überzeugende Antwort geben konnte, hatte Hamid ihn gepackt und auf die Schultern gehoben.
»Jetzt hast du einen guten Ausblick«, sagte er.
Ich fragte mich, ob ich die besorgte Mutter spielen sollte, entschied mich aber dagegen – man konnte nicht früh genug versuchen, die Mythen eines allmächtigen Systems zu zerstören. Und sei’s drum, dachte ich, es lebe die Gegenkultur, auch einem Jochen Gilmartin kann es nicht schaden, ein Ei auf eine persische Prinzessin zu werfen. Da Jochen das Geschehen nun von Hamids Schultern aus überschaute, wandte ich mich an Ilse.
»Siehst du den Fotografen mit der Jeansjacke – dort auf der Mauer bei den Reportern?«
»Ja, na und?«
»Das ist ein Polizist. Er sucht nach dir.«
Sie drehte sich sofort weg und fischte eine Mütze aus ihrer Jackentasche, eine blassblaue Sommermütze mit weicher Krempe, die sie tief ins Gesicht zog und mit einer Sonnenbrille ergänzte. Sie flüsterte Ludger etwas zu, und beide suchten Deckung in der Menge.
Plötzlich begannen die Polizisten zu rufen und gestikulieren. Der gesamte Verkehr wurde gestoppt, und ein Wagenkonvoi, angeführt von zwei Polizeiautos mit Blaulicht, näherte sich in schnellem Tempo. Die Schreie und Pfiffe wurden schrill, als die Kolonne hielt, Bodyguards ausstiegen und sich schützend um eine kleine Person in türkisfarbenem Seidenkleid gruppierten. Ich sah die dunkle, lackierte Toupetfrisur, die große Sonnenbrille, und während die Prinzessin hastig zum Pförtnerhäuschen und dem nervösen Begrüßungskomitee eskortiert wurde, begannen die Eier zu fliegen. Das knackende Geräusch, das sie beim Aufprall machten, kam mir vor wie ferne Gewehrschüsse.
»Wirf, Jochen!«, schrie ich spontan – und sah, wie er sein Ei warf. Hamid behielt ihn noch einen Moment länger auf der Schulter, dann setzte er ihn ab.
»Ich hab einen Mann an der Schulter getroffen«, sagte Jochen. »Einen von den Männern mit Sonnenbrille.«
»Brav, mein Junge«, sagte ich. »Aber jetzt geht’s nach Hause. Genug Aufregung für heute.«
Wir verabschiedeten uns und liefen die Broad Street hinauf, dann weiter zur Banbury Road. Nach kurzer Zeit bekamen wir überraschend Begleitung, von Ludger und Ilse. Jochen setzte sofort zu einer Erklärung an, dass er absichtlich nicht auf die Lady gezielt hatte, weil ihr Kleid so schön war – und sicher sehr teuer.
»Hey, Ruth«, sagte Ludger, der neben mir ging, »danke für die Warnung vor dem Bullen.«
Ilse hatte Jochen bei der Hand genommen, wie ich sah, und redete
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