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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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die Schultern. »Auf den Straßen herrscht so viel Gleichgültigkeit, weißt du? Das hat mich wütend gemacht.«
    »Was hast du überhaupt in London gewollt?«
    »Ich bin von zu Hause abgehauen – aus Düsseldorf. Meine beste Schulfreundin fing an, mit meinem Vater zu ficken. Das war unmöglich, ich musste weg.«
    »Ja«, sagte ich, »ja, das kann ich mir vorstellen … Was willst du jetzt machen?«
    Ilse dachte eine Weile nach, machte eine vage Handbewegung. »Ich glaube, wir suchen uns eine Wohnung in Oxford, Ludger und ich. Oder besetzen eine. Mir gefällt es hier. Ludger sagt, wir können vielleicht was mit Porno machen.«
    »In Oxford?«
    »Nein, in Amsterdam. Ludger sagt, er kennt einen, der Videos macht.«
    Ich warf einen Blick auf das dürre blonde Mädchen, das neben mir herlief und in ihrer Tasche nach einer Zigarette kramte – beinahe hübsch, nur etwas Stumpfes in ihren Zügen ließ sie gewöhnlich aussehen. Ein gewöhnliches Mädchen.
    »Das mit dem Porno würde ich mir überlegen, Ilse«, sagte ich. »Da wirst du für traurige alte Männer zur Wichsvorlage.«
    »Jaa …« Sie dachte ein bisschen nach. »Hast ja recht. Dann verkaufe ich lieber Drogen.«
    Wir holten Ludger und Jochen ein und redeten über die Demo und Jochens Volltreffer mit dem Ei, gleich beim ersten Wurf. Doch aus irgendeinem Grund musste ich an Frobishers Bitte denken: Alles, was Sie hören, selbst wenn es nur eine Vermutung ist – wir wären Ihnen sehr verbunden.

Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Ottawa 1941
    Durch die Busfenster blickte Eva Delektorskaja auf die bunten Lichter und Weihnachtsdekorationen in den Schaufenstern von Ottawa. Sie war auf dem Weg zur Arbeit und hatte wie auch sonst meistens einen Sitzplatz weit vorn gefunden, in der Nähe des Fahrers, so dass sie gut überschauen konnte, wer ein- und ausstieg. Sie schlug ihren Roman auf und tat, als würde sie lesen. Ihr Fahrziel war die Somerset Street in der Innenstadt von Ottawa, aber sie zog es vor, ein paar Stationen vorher oder danach auszusteigen und jedes Mal auf anderen Umwegen zum Beschaffungsministerium zu laufen. Solche Vorsichtsmaßnahmen verlängerten ihren Weg zur Arbeit um etwa zwanzig Minuten, aber sie fühlte sich tagsüber viel wohler und entspannter, wenn sie wusste, dass sie ihre Vorkehrungen getroffen hatte.
    Sie war überzeugt, fast hundertprozentig, dass ihr in den paar Tagen, seit sie in Ottawa wohnte und arbeitete, niemand gefolgt war, aber das ständige Absichern war Teil ihres Alltags geworden: Vor fast zwei Wochen hatte sie die Flucht aus New York angetreten – morgen sind es vierzehn Tage, stellte sie fest –, aber noch konnte sie nicht aufatmen.
    Sie war zu Fuß nach Sainte-Justine gelangt, als der Ort gerade zum Leben erwachte, und hatte zusammen mit den ersten Kunden im Drugstore Kaffee und Doughnuts bestellt, bevor sie in den Bus nach Montreal stieg. Dort hatte sie ihr langes Haar geopfert, sich einen Bubikopf schneiden und kastanienbraun färben lassen und in einem kleinen Hotel in Bahnhofsnähe übernachtet. Sie war um acht ins Bett gegangen und hatte zwölf Stunden durchgeschlafen. Erst am nächsten Morgen, einem Montag, las sie vom Angriff auf Pearl Harbor, der am Vortag stattgefunden hatte. Ungläubig überflog sie den Bericht, dann las sie ihn noch einmal gründlich: acht Kriegsschiffe versenkt, Hunderte von Toten und Vermissten, eine Infamie historischen Ausmaßes, Kriegserklärung an Japan. Und sie dachte, innerlich aufjubelnd: Wir haben gewonnen. Genau das haben wir gewollt, und wir werden siegen – nicht in Wochen, nicht in Monaten, aber wir werden siegen. Ihr kamen fast die Tränen, weil sie um die Bedeutung dieser Nachricht wusste; sie versuchte sich vorzustellen, wie sie bei der BSC aufgenommen wurde, und kam auf die – sofort wieder verworfene – Idee, Sylvia anzurufen. Was wird Lucas Romer denken?, fragte sie sich. Konnte sie sich jetzt sicherer fühlen? Würden sie die Suche nach ihr einstellen?
    Wohl kaum, dachte sie, als sie die Treppe zum neuen Anbau des Beschaffungsministeriums hinaufstieg und mit dem Fahrstuhl zum Schreibbüro in der dritten Etage fuhr. Sie war früh dran; die anderen drei Stenotypistinnen, die für das halbe Dutzend Beamter dieser Ministeriumsabteilung als Schreibkräfte dienten, waren noch nicht da. Erst einmal entspannte sie ein wenig: Auf der Arbeit fühlte sie sich stets ungefährdeter, weil die vielen Menschen hier für eine gewisse Anonymität sorgten und weil sie den Weg zur Arbeit

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