Ruhelos
und zurück gut absicherte. Erst in der Freizeit stellte sich das Gefühl permanenten Misstrauens wieder ein – als würde sie mit dem Verlassen des Büros zum Individuum, einer Persönlichkeit, die auffallen konnte. Hier in der dritten Etage war sie nur ein Tippfräulein unter vielen.
Sie nahm die Hülle von der Schreibmaschine und blätterte die Schreiben in ihrem Eingangskorb durch. Mit ihrem Job war sie sehr zufrieden, er stellte keine hohen Anforderungen und würde ihr eine Rückfahrkarte nach England sichern – so hoffte sie zumindest.
Eva wusste, dass es für ledige Frauen nur zwei Möglichkeiten gab, von Kanada nach England zu gelangen: entweder in Uniform – als Rotkreuzschwester oder Fernmelderin – oder als Regierungsangestellte. Letzteres ging schneller, hatte sie entschieden und war daher am Montag, dem 8. Dezember, von Montreal nach Ottawa gefahren und bei einer Büroagentur, die Regierung und Parlament mit Sekretärinnen versorgte, vorstellig geworden. Ihre stenographischen Fertigkeiten, ihr fließendes Französisch und ihr Schreibtempo waren als Qualifikation mehr als ausreichend, und es vergingen keine vierundzwanzig Stunden, da wurde sie schon zu einem Einstellungsgespräch in den neuen Anbau des Beschaffungsministeriums in der Somerset Street geschickt, einen schmucklosen Büroblock aus Kalkstein, der die Farbe von altem Schnee hatte.
In Montreal angekommen, hatte sie nachts im Hotel eine Stunde gebraucht, um mit einer starken Lupe, einer Nadel und indischer Tinte, die sie mit etwas Milch verdünnte, ihren Namen im Reisepass von »Allerdice« auf »Atterdine« zu ändern. Aus dem Vornamen »Margery« ließ sich nichts machen, also beschloss sie, sich »Mary« zu nennen, als wäre das ihr bevorzugter Rufname. Eine Prüfung unter dem Mikroskop würde der Pass nicht überstehen, aber für den flüchtigen Blick des Beamten bei der Einreisekontrolle war er allemal gut genug. Aus Eva Delektorskaja war Eve Dalton, dann Margery Allerdice, dann Mary Atterdine geworden – ihre Spuren, so hoffte sie, verloren sich allmählich im Nichts.
Nachdem sie sich ein paar Tage in der neuen Arbeitsstelle umgetan hatte, begann sie in der Ministeriumskantine bei den Frauen herumzufragen, wie die Chancen standen, an die Londoner Botschaft versetzt zu werden. Sie fand heraus, dass es einen ziemlich regen Personalwechsel in beide Richtungen gab. Alle paar Wochen oder Monate wurden einige dorthin überstellt, andere kamen zurück. Sie musste nur ins Personalbüro gehen und einen Fragebogen ausfüllen; der Umstand, dass sie Britin war, würde die Sache sicher erleichtern. Jedem, der sie darauf ansprach, erzählte sie schüchtern, mit Empörung in der Stimme, dass sie nach Kanada gekommen war, um zu heiraten, dann aber von ihrem kanadischen Verlobten sitzen gelassen worden sei. Sie sei nach Vancouver gezogen, um in seiner Nähe zu sein, aber weil die Heiratspläne verdächtig vage blieben, sei sie misstrauisch geworden und habe schließlich feststellen müssen, dass der Mann sie aufs Grausamste belogen und ausgenutzt hatte. Allein und verlassen in Vancouver, sei sie dann ostwärts gereist, um irgendwie zurück nach Hause zu kommen. Genauere Nachfragen – Wer war der Mann? Wo hat sie gewohnt? – lösten bei ihr Schluchzen oder echte Tränen aus: Sie fühlte sich noch immer verletzt und gedemütigt, es war alles noch zu frisch, als dass sie darüber hätte reden können. Mitleidige Frager verstanden das und hielten sich zurück.
Im bürgerlichen Vorort Westboro hatte sie eine Pension gefunden, die in einer ruhigen Straße lag, der Bradley Street. Die Pension wurde von Mr und Mrs Maddox Richmond geführt und beherbergte ausschließlich junge Damen. Übernachtung und Frühstück kosteten zehn Dollar die Woche, Halbpension fünfzehn, zahlbar wöchentlich oder monatlich. »Kaminfeuer an kalten Tagen« verkündete ein Schildchen am Torpfosten. Die meisten »zahlenden Gäste« waren Einwanderer: ein tschechisches Schwesternpaar, eine Schwedin, ein Landmädchen aus Alberta – und Eva. Jeden Morgen um sechs wurde für die Gäste, die dies wünschten, im unteren Salon eine Familienandacht abgehalten, ab und zu nahm Eva gewissenhaft, aber ohne übertriebenen Eifer daran teil. Ihre Mahlzeiten nahm sie außer Haus ein, vorzugsweise in Imbisslokalen und Restaurants in Ministeriumsnähe, wo anonyme Betriebsamkeit herrschte und die hungrige Kundschaft schnell bedient wurde. Sie fand eine Bibliothek, die lange geöffnet hatte und wo
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