Ruhelos
Ihnen vorschlagen will, Miss Atterdine, ist eine Beförderung.«
Das sei ja sehr schmeichelhaft, sagte sie, sie sei in der Tat überrascht und überwältigt von diesem Angebot, aber nichts könne sie von ihrem Vorhaben abbringen. In diskreter Anspielung auf ihre Enttäuschung in British Columbia betonte sie, das liege nun alles hinter ihr, und sie wünsche nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren, zu ihrem verwitweten Vater – eine biographische Information, die sie spontan hinzufügte.
Comeau nickte teilnahmsvoll. Das könne er verstehen, sagte er, auch er sei Witwer, seine Frau sei vor zwei Jahren gestorben, und er kenne die Einsamkeit, unter der ihr Vater leiden müsse, sehr gut. Daher also die Melancholie, dachte sie.
»Aber denken Sie noch einmal darüber nach, Miss Atterdine. Die Atlantikpassage ist gefährlich, riskant sogar. London wird noch immer bombardiert. Wollen Sie nicht doch lieber in Ottawa bleiben?«
»Ich glaube, mein Vater möchte gern, dass ich zurückkomme«, sagte Eva. »Aber vielen Dank für Ihre Anteilnahme.«
Comeau erhob sich von seinem Sessel und schaute aus dem Fenster. Ein dünner Regen besprühte die Scheibe, er verfolgte das mäandernde Herabrinnen eines Tropfens mit dem Zeigefinger. Eva fühlte sich sofort nach Ostende versetzt, in Romers Büro, am Tag nach Prenslo, und ihr wurde ganz schwindlig. Wie viele Male am Tag dachte sie an Lucas Romer? Sie tat es absichtlich, mutwillig, stellte sich vor, wie er die Suche organisierte, stellte sich vor, wie er an sie dachte, wie er sich den Kopf darüber zerbrach, wo sie stecken mochte – aber diese plötzlichen Momente, wenn die Erinnerungen sie überfielen, trafen sie völlig unvorbereitet und zogen ihr den Boden unter den Füßen weg.
Comeau sagte etwas.
»Wie bitte?«
»Ich fragte, ob Sie am Weihnachtsfeiertag schon etwas vorhaben«, sagte er ein wenig schüchtern.
»Ja, ich bin bei Freunden eingeladen«, erwiderte sie sofort.
»Weil ich meinen Bruder besuche«, redete er weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Er hat ein Haus bei North Bay, direkt am See.«
»Klingt wundervoll, aber leider …«
Comeau war entschlossen, seine Einladung loszuwerden, ungeachtet aller Unterbrechungen. »Er hat drei Söhne, einer ist verheiratet, eine sehr nette Familie, aufgeschlossene, freundliche junge Leute. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, für ein, zwei Tage mitzukommen, als mein Gast. Es geht sehr locker und entspannt zu – Kaminfeuer, Fischen auf dem See, heimische Küche.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Mr Comeau«, erwiderte sie, »aber ich habe schon alle Verabredungen mit meinen Freunden getroffen. Es wäre nicht fair ihnen gegenüber, wenn ich so kurzfristig absagen würde.« Sie setzte ein schmerzliches Lächeln auf, um ihn ein wenig zu trösten, leider musste sie ihn enttäuschen.
Die Trauer überzog sein Gesicht von neuem – er hatte seine Hoffnungen hochgeschraubt, wie sie nun erkannte. Die einsame junge Engländerin, die im Schreibbüro arbeitete – so attraktiv, und lebte so bescheiden und unauffällig. Die Versetzung nach London hatte ihn offenbar elektrisiert, zum Handeln getrieben.
»Tja, dann … natürlich«, sagte Comeau. »Vielleicht hätte ich Sie eher fragen sollen.« Er hob verzagt die Hände, Eva bekam Mitleid mit ihm. »Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie uns so bald verlassen würden.«
Drei Tage später sah Eva das Auto zum zweiten Mal, einen moosgrünen 38er Ford, der vor dem Haus der Pepperdines parkte. Vorher hatte er vor dem Haus von Miss Knox gestanden, und Eva wusste, dass er weder Miss Knox (einem älteren Fräulein mit drei Terriern) noch den Pepperdines gehörte. Sie ging zügig vorbei und warf einen Blick hinein. Auf dem Beifahrersitz lagen eine Zeitung und eine Landkarte, im Türfach auf der Fahrerseite steckte etwas, was wie eine Thermosflasche aussah. Eine Thermosflasche, dachte sie -jemand verbringt eine Menge Zeit in diesem Auto.
Zwei Stunden später ging sie hinaus, »ein wenig Luft schnappen«, und es war verschwunden. Sie dachte lange und gründlich nach in jener Nacht; anfangs war sie entschlossen, auszuziehen, wenn sie es zum dritten Mal sah. Aber eingedenk ihrer Ausbildung in Lyne wusste sie, dass es falsch war. Sofort reagieren, wenn etwas Auffälliges geschieht – auch das eine Romer-Regel. Wenn sie das Auto zum dritten Mal sah, war mit ziemlicher Sicherheit etwas faul, und dann konnte es schon zu spät sein. Also packte sie ihre Reisetasche und
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