Ruhelos
sie an manchen Abenden ungestört bis neun Uhr lesen konnte, und an ihrem ersten freien Wochenende fuhr sie nach Quebec City, einfach, um fort zu sein. Die Pension der Richmonds benutzte sie eigentlich nur zum Übernachten, der Kontakt zu den anderen Gästen ging nicht über ein freundliches Nicken hinaus.
Das ruhige, geregelte Leben behagte ihr, sie fand es wohltuend, einfach so, fast ohne besondere Vorkehrungen in Ottawa zu wohnen: die breiten Boulevards, die gepflegten Parks, die imposanten öffentlichen Gebäude im neugotischen Stil, die stillen Straßen und die allgemeine Sauberkeit waren genau das, was sie brauchte, während sie ihre nächsten Schritte plante.
Doch trotzdem blieb sie ständig auf der Hut. In einem Notizbuch hielt sie die Nummern aller Autos fest, die in der Straße parkten, und brachte in Erfahrung, zu welchem Haus sie gehörten. Sie notierte die Namen der dreiundzwanzig Hausbesitzer in der Bradley Street, gegenüber und zu beiden Seiten der Richmonds, und informierte sich bei freundlichem Geplauder mit Mrs Richmond über alle Neuigkeiten: Valerie Kominski hatte einen neuen Freund, Mr und Mrs Doubleday waren im Urlaub, Fielding Bauer war gerade von seiner Baufirma »freigesetzt« worden. Sie schrieb alles auf, ergänzte es durch neue Fakten, strich Überflüssiges und Veraltetes und hielt ständig Ausschau nach besonderen Vorkommnissen, die Gefahr für sie bedeuten konnten. Vom ersten Wochenlohn hatte sie sich ein paar vernünftige Sachen gekauft und, unter Zuhilfenahme ihres Dollarvorrats, auch einen dicken Biberpelzmantel gegen die Kälte, die, als Weihnachten nahte, immer schneidender wurde.
Sie versuchte zu analysieren und zu erraten, wie es bei der BSC weiterging. Trotz der Euphorie wegen Pearl Harbor und der Begrüßung Amerikas als langersehntem Verbündeten würden sie weiter ermitteln, Wühlarbeit leisten, Hinweisen folgen. Morris Devereux’ Tod und Eve Daltons Verschwinden in derselben Nacht waren keine Ereignisse, die man einfach ignorieren konnte. Sie war sicher, dass alles, was Morris über Romer gemutmaßt hatte, jetzt vor seiner Tür abgelegt wurde: Wenn es Maulwürfe der deutschen Abwehr gab, musste man dann nach den Vorfällen um Devereux und Dalton noch weitersuchen? Aber sie wusste auch – und das verschaffte ihr Genugtuung, stärkte ihre Entschlossenheit –, dass ihr Verschwinden und ihre anhaltende Unsichtbarkeit für Romer einen beständig bohrenden Stachel darstellten. Wenn jemand darauf drängte, dass die Suche mit allen Mitteln fortgesetzt wurde, dann war er es. Sie würde sich niemals entspannt und zufrieden zurücklehnen, sagte sie sich: Margery – »nennen Sie mich Mary« – Atterdine würde ihr Leben weiterhin so unauffällig und vorsichtig gestalten, wie es nur ging.
»Miss Atterdine?«
Sie schaute von der Schreibmaschine hoch. Es war Mr Comeau, Unterstaatssekretär im Beschaffungsministerium, ein adretter Mittvierziger mit gepflegtem Schnurrbart und einer gewissen Nervosität, die scheu und pedantisch zugleich wirkte. Er bat sie in sein Büro.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte er. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und kramte in seinen Papieren.
Ein netter Mensch, dieser Mr Comeau, dachte sie. Nie herablassend oder hochnäsig wie einige der anderen Unterstaatssekretäre, die den Schreibkräften die Manuskripte hinwarfen und ihnen Befehle erteilten, als würden sie mit Automaten reden. Aber seine Höflichkeit und Freundlichkeit hatten auch etwas Melancholisches, als ob er sich damit gegen eine feindselige Welt abschirmen wollte.
»Wir haben hier Ihren Antrag auf Versetzung in die Londoner Botschaft. Er ist genehmigt.«
»Oh, sehr gut.« Ihr Herz machte einen Luftsprung: Endlich würde etwas passieren, würde ihr Leben eine andere Richtung einschlagen, aber nach außen zeigte sie keinerlei Regung.
Comeau erklärte ihr, dass am 18. Januar ein neuer Schub von fünf »jungen Frauen« aus den kanadischen Ministerien in St. John nach Gourock, Schottland, eingeschifft würde.
»Ich bin sehr erfreut«, sagte sie und glaubte, einen Kommentar abgeben zu müssen. »Das ist mir sehr wichtig, weil …«
»Unter der Voraussetzung …«, unterbrach er sie und versuchte sich vergeblich an einem koketten Lächeln.
»Unter welcher Voraussetzung?« Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
»Dass wir Sie nicht zum Bleiben überreden können. Sie haben sich hier sehr gut eingeführt. Wir sind sehr zufrieden mit Ihrem Fleiß und Ihren Fähigkeiten. Was ich
Weitere Kostenlose Bücher