Ruhelos
wären die Mitarbeiter Musiker eines Orchesters, die jeder für sich in einem schalldichten Raum spielten – und nur Romer war in der Lage, ihr Zusammenspiel zu hören.
Sylvia kam an den Schreibtisch zurück, im Mantel und mit einem schicken Federhut auf dem Kopf.
»Essen wir heute zu Hause?«, fragte sie. »Wie wär’s mit Steak und Rotwein?«
»Ich fürchte, daraus wird nichts«, ließ sich eine Männerstimme vernehmen.
Sie drehten sich um und erblickten Morris Devereux. Er war ein schlanker, sarkastischer Typ mit markanten Zügen und vorzeitig ergrautem Haar, die er ohne Scheitel glatt nach hinten kämmte. Er achtete sehr auf seine Kleidung: Heute trug er einen dunkelblauen Anzug mit azurblauer Fliege. An manchen Tagen sah man ihn in erstklassigen scharlachroten Hemden.
»Wir fahren nach Brüssel«, sagte er zu Eva. »Pressekonferenz, Außenministerium.«
»Und was wird damit?« Sie zeigte auf ihren Zeitungsstapel.
»Du kannst mal ausspannen«, sagte Morris. »Associated Press hat deine toten Matrosen gekauft. Wir kriegen einen dicken Scheck, und morgen bist du über ganz Amerika verbreitet.«
Sylvia knurrte ihren Abschiedsgruß und ging. Morris holte Evas Hut und Mantel.
»Wir kriegen das Auto vom Chef«, sagte er. »Er musste nach London. Ich glaube, ein netter Lunch ist auch noch drin.«
Sie fuhren Richtung Brüssel, kamen flott und ohne Verzögerung durch Brügge, aber in Gent mussten sie einer Umleitung nach Oudenaarde folgen, weil die Hauptstraße von einem Militärkonvoi blockiert war – Lkw voller Soldaten, leichte Panzer auf Tiefladern und seltsamerweise auch eine ganze Reiterdivision, wie es aussah, denn es wimmelte dort von Reitern und Pferden, als ginge es auf ein Schlachtfeld des neunzehnten Jahrhunderts.
In Brüssel parkten sie in der Nähe des Gare du Nord, und da sie Verspätung hatten, führen sie mit dem Taxi direkt zu dem Restaurant, wo Morris bereits einen Tisch reserviert hatte – zum Filet de Bœuf in der Rue Grétry. Die Pressekonferenz fand um fünfzehn Uhr dreißig im Rathaus statt. Sie hatten also reichlich Zeit, meinte Morris, obwohl sie vielleicht auf das Dessert verzichten sollten.
Sie wurden zu ihrem Tisch geleitet und bestellten einen Aperitif, während sie die Karte studierten. Eva nahm die anderen Gäste in Augenschein: die Geschäftsleute, Anwälte, Politiker, die da aßen, rauchten, tranken, redeten, und die bejahrten Kellner, die mit gewichtiger Miene hin und her eilten, und ihr fiel auf, dass sie die einzige Frau im Saal war. Es war ein Mittwoch: Vielleicht gingen belgische Frauen nur an Wochenenden ins Restaurant, mutmaßte sie Morris gegenüber, der gerade den Sommelier herbeiwinkte.
»Wer weiß? Aber mit deiner strahlenden Weiblichkeit bist du der männlichen Überzahl mit Leichtigkeit gewachsen, meine Liebe.«
Sie bestellte museau de porc und Steinbutt.
»Ist das nicht ein seltsamer Krieg?«, sagte sie. »Ich muss mich ständig daran erinnern, dass er überhaupt stattfindet.«
»Aber wir sind in einem neutralen Land, vergiss das nicht«, sagte Morris.
»Was macht Romer in London?«
»Es ist nicht an uns, zu fragen. Wahrscheinlich redet er mit Mister X.«
»Wer ist Mister X?«
»Mister X ist Romers … was? Romers Kardinal Richelieu. Ein Mann mit sehr viel Macht, der Lucas Romer so ziemlich freie Hand lässt.«
Eva schaute Morris zu, der seine Gänseleberpastete in hübsche kleine Würfel zerschnitt.
»Warum ist die Agentur nicht in Brüssel?«, fragte sie. »Warum sitzen wir in Ostende?«
»Damit wir schneller weg sind, wenn die Deutschen kommen.«
»Ach ja? Und wann wird das sein?«
»Frühling nächsten Jahres, nach Auskunft unseres Chefs. Er will nicht, dass Brüssel zur Falle wird.«
Die Hauptgerichte kamen zusammen mit einer Flasche Bordeaux. Eva schaute Morris zu, der das ganze Ritual – schnüffeln, Glas ins Licht halten, den Wein im Mund umhersprudeln – formvollendet durchspielte.
»In Brüssel würden wir besser essen und trinken«, sagte sie. »Überhaupt: Warum hast du mich mitgenommen? Du bist der Belgien-Spezialist.«
»Befehl von Romer. Du hast doch deine Papiere eingesteckt, hoffe ich?«
Eva konnte ihn beruhigen, und sie aßen weiter, plauderten über ihre Kollegen, die Nachteile und Widrigkeiten des Lebens in Ostende, aber Eva fragte sich während der Unterhaltung, und das nicht zum ersten Mal, welche winzige Rolle sie in dem großen Plan spielte, den nur Romer wirklich überschaute. Ihre Anwerbung, ihre Ausbildung,
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