Ruhelos
Königsblau auf Zitronengelb: Agence d’Information Nadal – oder, wie Romer gern sagte: »die Gerüchtefabrik«.
Das Gebäude war ein dreistöckiger Büroblock aus den zwanziger Jahren, mit einem geschwungenen Säulenvorbau vor dem Portal, dessen streng modernistische Stromlinienform sich mit einem pseudoägyptischen Schmuckfries unter dem Sims des dritten Stocks vertragen musste. Auf dem Dach stand ein Sendemast, der aussah wie ein kleiner, rot und weiß gestrichener Eiffelturm. Und mehr noch als die architektonischen Auffälligkeiten war er es, der die Blicke der Passanten auf sich zog.
Eva trat ein, nickte dem Pförtner zu und stieg die Treppe zum obersten Stock hinauf. Agence d’Information Nadal war eine kleine Nachrichtenagentur, ein Zwerg verglichen mit solchen Giganten wie Reuters, Agence Havas oder Associated Press, aber im Wesentlichen tat sie genau dasselbe: nämlich Nachrichten und Informationen an verschiedene Kunden zu liefern, die nicht willens oder in der Lage waren, diese Nachrichten und Informationen selber zu beschaffen. A. I. Nadal belieferte um die 137 Lokalzeitungen und Radiosender in Belgien, Holland und Nordfrankreich und erzielte einen bescheidenen, aber stabilen Gewinn. Romer hatte die Agentur 1938 von ihrem Gründer Pierre-Henri Nadal erworben, einem gepflegten alten Herrn mit weißem Haar, der im Sommer einen flachen Strohhut und weiß abgesetzte Schuhe trug. Ab und zu stattete er der Agentur einen Besuch ab, um zu sehen, wie sein Kind unter den neuen Pflegeeltern gedieh. Romer hatte alles beim Alten belassen und die nötigen Änderungen in aller Diskretion vorgenommen. Der Sendemast wurde verlängert und seine Kapazität verstärkt. Die ursprüngliche Belegschaft, etwa ein Dutzend belgische Journalisten, wurde weiterbeschäftigt, aber in der zweiten Etage untergebracht, wo sie damit fortfuhr, die Lokalnachrichten in diesem Eckchen Europas zu durchsieben -Viehmärkte, Dorffeste, Radrennen, die Gezeitentabellen, die Schlussmarkierungen der Brüssler Börse und so weiter – und die Ergebnisse ihrer Arbeit an die Telegrafenabteilung im Erdgeschoss weiterzuleiten, die die Meldungen in Morsezeichen verwandelte und an die 137 Abonnenten der Agentur telegrafierte.
Romers Einheit belegte die dritte Etage. Es handelte sich um ein kleines Team von fünf Mitarbeitern, die ihren Arbeitstag damit verbrachten, alle europäischen und wichtigen überseeischen Zeitungen, die sie auftreiben konnten, zu lesen und nach entsprechender Beratung und Diskussion von Zeit zu Zeit eine Romer-Story in den Strom belangloser Nachrichten einzuschleusen, der von dem unverdächtigen Haus in der Rue d’Yser versendet wurde.
Die anderen vier Mitarbeiter in Romers »Team« waren Morris Devereux – Romers Nummer zwei –, ein eleganter und kultivierter Exdozent aus Cambridge; Angus Woolf, ein ehemaliger Fleet-Street-Journalist, der durch eine angeborene Missbildung der Wirbelsäule arg verkrüppelt war; Sylvia Rhys-Meyer – Evas Mitbewohnerin –, eine lebhafte Frau Ende dreißig, ehemalige Fremdsprachenexpertin und Übersetzerin des Außenministeriums, dreimal verheiratet und geschieden; schließlich Alfie Blytheswood, der nichts mit den Nachrichten der Agentur zu tun hatte, sondern für die Wartung und das reibungslose Funktionieren der starken Sendeanlage und gelegentliche Funkverschlüsselungen verantwortlich war. Das war der AAS in seiner Gesamtheit, wie Eva sehr schnell erkannte: Romers Team war klein und fest gefügt – außer ihr selbst schienen alle schon mehrere Jahre für ihn zu arbeiten, Morris Devereux sogar noch länger.
Eva hängte Mantel und Hut an den gewohnten Haken und ging zu ihrem Schreibtisch. Sylvia war noch da, blätterte in schwedischen Zeitungen vom Vortag. Der Aschenbecher vor ihr war bis an den Rand mit Zigarettenstummeln gefüllt.
»Eine anstrengende Nacht?«
Sylvia ließ die Schultern sacken, um Erschöpfung zu signalisieren. Sie sah aus wie eine stämmige Frau vom Lande, mit der nicht zu spaßen war, eines Landarztes etwa oder eines Gutsbesitzers, mit vollem Busen und breiten Hüften, gut geschnittenen Kostümen und teuren Accessoires – nur dass alles andere an Sylvia Rhys-Meyer diesen ersten Eindruck durchkreuzte.
»Langweilige Scheiße, öde, langweilige Scheiße, scheißlangweilige Scheiße«, sagte sie und stand auf, um Eva Platz zu machen.
»Ach ja«, fügte Sylvia hinzu. »Deine Meldung mit den toten Matrosen wird überall aufgegriffen.« Sie schlug das Svenska
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