Ruhelos
ihr Einsatz – alles wies auf einen logischen Ablauf hin, aber sie konnte nicht erkennen, wohin er führte. Sie konnte nicht sehen, wo sich das Zahnrädchen Eva Delektorskaja im großen Mechanismus befand, ja, sie sah nicht einmal den Mechanismus. Es ist nicht an uns, zu fragen, hatte Morris gesagt, und recht hatte er, gestand sie sich resignierend ein, während sie ein Stück Steinbutt ablöste und in den Mund schob – köstlich. Es war eine Lust, in Brüssel zu sein, weit weg von ihren französischen und russischen Zeitungen, mit einem kultivierten und unterhaltsamen jungen Mann zu essen – nur nicht dran rütteln, nur nicht zu viele Fragen stellen.
Die Pressekonferenz wurde von einem Staatssekretär abgehalten und sollte die belgische Haltung zur russischen Besetzung Finnlands skizzieren. Ihre Personalien wurden am Eingang registriert, und zusammen mit etwa vierzig Journalisten lauschten sie den Ausführungen des Staatssekretärs. Nach ein paar Minuten schweiften Evas Gedanken ab, sie dachte an ihren Vater, den sie im August zuletzt gesehen hatte, für ein paar Tage Urlaub in Paris, bevor sie nach Ostende gezogen war. Er hatte viel gebrechlicher ausgesehen, magerer, die Falten an seinem Hals waren tiefer geworden, und ihr war aufgefallen, dass seine Hände zitterten, auch wenn er sie still hielt. Am beunruhigendsten aber war, dass er sich ständig die Lippen leckte. Sie fragte, ob er durstig sei, und er antwortete: Nein, wieso? Vielleicht war es eine Nebenwirkung der Arzneimittel, die er zur Stärkung seines Herzens bekam? Aber es hatte keinen Zweck, sich länger etwas vorzumachen. Es ging langsam bergab mit ihrem Vater – das sonnige Alter war vorüber, jetzt erwartete ihn die Mühsal des letzten Lebensabschnitts. In den paar Monaten seit ihrem Weggang war er um zehn Jahre gealtert, wie ihr schien.
Irène blieb kühl und zeigte wenig Neugier, was Evas neue Existenz in England betraf. Als sich Eva nach dem Gesundheitszustand ihres Vaters erkundigte, sagte sie, es gehe ihm gut, danke der Nachfrage, alle Ärzte seien sehr zufrieden mit ihm. Auf die Frage ihres Vaters, wo sie arbeite, antwortete sie, sie sei bei der »Nachrichtentruppe« und schon eine Expertin im Morsen. »Wer hätte das gedacht?«, rief er, und für einen Augenblick oder zwei flammte die alte Begeisterung in ihm auf. Er legte ihr die zitternde Hand auf den Arm und fügte leise hinzu, damit Irène es nicht hörte: »Du hast das Richtige getan, mein Mädchen.«
Morris tippte an ihren Ellbogen und riss sie aus ihren Träumen. Er schob ihr einen Zettel hin. Es war eine Frage auf Französisch. Verständnislos starrte sie auf den Zettel.
»Romer will, dass du die Frage stellst«, sagte Morris.
»Warum?«
»Ich glaube, das soll uns Seriosität verleihen.«
Als der Staatssekretär seine Ausführungen beendet hatte und der Leiter der Pressekonferenz um Fragen bat, wartete sie vier oder fünf Fragesteller ab, bevor sie die Hand hob. Sie wurde geortet, man zeigte auf sie – »La mademoiselle, là« –, sie stand auf.
»Eve Dalton«, sagte sie, »Agence d’Information Nadal.« Sie sah, wie der Pressechef ihren Namen in ein Buch eintrug, und auf sein Nicken trug sie die Frage vor, ohne ihre Bedeutung wirklich zu erfassen – sie bezog sich auf eine Minderheitenpartei im Parlament, den Vlaamsch Nationaal Verbond und seine Politik der »neutralité rigoureuse«, und löste einige Bestürzung aus. Die Antwort des Staatssekretärs war schroff und abweisend, aber sofort hob sich ein halbes Dutzend Hände zu weiteren Nachfragen. Sie setzte sich, und Morris gönnte ihr ein diskret beifälliges Lächeln. Nach fünf Minuten signalisierte er ihr den Aufbruch, und sie schlichen auf Zehenspitzen hinaus, verließen das Rathaus durch einen Seitenausgang und liefen, da ein widerwärtig peitschender Regen eingesetzt hatte, im halben Galopp quer über die Grand Place zu einem Café. Sie rauchten eine Zigarette, tranken Tee und blickten hinaus auf die Fassaden, die den Platz umgaben wie ziselierte Felswände und auch nach Jahrhunderten noch von Reichtum und ungebrochenem Selbstbewusstsein kündeten. Der Regen wurde heftiger, und die Blumenhändler machten ihre Stände dicht, als sie ein Taxi zum Bahnhof nahmen und ohne Umwege nach Ostende zurückfuhren.
Diesmal gab es keine Militärtransporte auf der Straße nach Gent, schon um sieben Uhr abends waren sie am Ziel. Auf der Rückfahrt unterhielten sie sich miteinander, aber ohne die Vorsicht außer Acht zu
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