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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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zurückfuhr.
    Eine Weile blieb sie reglos hinter ihrem Baum stehen und bewahrte die Ruhe, wie sie es gelernt hatte: Es gab keinen Handlungsbedarf, lieber tat sie gar nichts als etwas Übereiltes und prägte sich in allen Einzelheiten ein, was sie gesehen hatte, Schritt für Schritt in ihrer Abfolge, damit sie nichts durcheinanderbrachte, und merkte sich jedes Wort, das sie mit Joos gewechselt hatte.
    Sie fand einen Pfad, den sie langsam entlanglief, bis sie zu einem Forstweg kam, der nach einiger Zeit in eine befestigte Straße mündete. Sie war zwei Kilometer von Prenslo entfernt, wie sie dem ersten Schild entnahm, das ihr begegnete. Sie lief langsam weiter, doch in ihrem Kopf überschlugen sich die Deutungen dessen, was sie gesehen hatte. Als sie im Hotel Willems ankam, wurde ihr mitgeteilt, dass der andere Gast schon abgereist war.

4
Das Gewehr
    Am Morgen rief Bérangère an, sie habe sich böse erkältet, und fragte, ob die Stunde ausfallen könne. Ich sagte sofort ja, mit Anteilnahme und heimlicher Erleichterung (denn bezahlt wurde ich so oder so), und beschloss, die zwei Freistunden zu nutzen. Ich fuhr mit dem Bus in die Stadt und betrat mein College durch die Pforte in der Turl Street. Zwei Minuten lang las ich die Anschläge am schwarzen Brett, dann schaute ich, ob etwas Interessantes in meinem Fach lag. Es waren die üblichen Flyer, Einladungen zu Sherry-Partys, eine Rechnung für den Wein, den ich vier Monate zuvor gekauft hatte, und ein edler Büttenumschlag mit meinem Namen – Ms Ruth Gilmartin M.A. –, geschrieben mit Sepiatinte und sehr dicker Feder. Ich wusste auf Anhieb, wer der Absender war: mein Doktorvater, Robert York, den ich regelmäßig schlechtmachte, indem ich ihn als faulsten aller Oxford-Professoren bezeichnete.
    Und wie um mich für meine Respektlosigkeit zu bestrafen, enthielt dieser Brief, wie ich sah, eine subtile Schelte – als würde Bobbie York zu mir sagen: Meinetwegen können Sie mir auf der Nase herumtanzen, aber es stört mich doch ein wenig, dass Sie es jedem erzählen. Er lautete:
     
    Meine liebe Ruth,
    es ist eine ganze Weile her, dass wir uns zu sehen gekriegt haben. Darf ich’s wagen, anzufragen, ob es ein neues Kapitel für mich zu lesen gibt? Ich hielte es in der Tat für eine gute Idee, uns bald mal wieder zu treffen – wenn’s irgend geht, noch vor Semesterende.
    Tut mir leid, Sie zu langweilen.
    Tanti saluti, Bobbie
     
    Ich rief ihn sofort an, vom Fernsprecher in der Pförtnerloge. Es dauerte, bis er abnahm, aber dann hörte ich den vertrauten Basso profundo.
    »Robert York.«
    »Hallo, ich bin’s, Ruth.«
    Schweigen. »Ruth de Villiers?«
    »Nein, Ruth Gilmartin.«
    »Ah, meine Lieblingsruth. Die verlorene Tochter. Gott sei Dank. Da haben Sie mir aber einen Schreck eingejagt. Wie geht es Ihnen?«
    Wir verabredeten uns für den Abend des nächsten Tages in seinem Büro. Ich legte auf, ging wieder hinaus auf die Turl Street und musste kurz stehen bleiben, weil ich mich plötzlich ganz verwirrt und schuldig fühlte. Schuldig, weil ich seit Wochen nichts für meine Dissertation getan hatte, verwirrt, weil ich mich fragte: Was machst du eigentlich hier in diesem Provinznest? Wozu überhaupt promovieren? Warum eine akademische Laufbahn?
    Einfache oder schnelle Antworten wollten mir nicht einfallen, und während ich langsam zur High Street weiterlief, überlegte ich, ob ich auf einen Drink in ein Pub gehen oder lieber nach Hause fahren sollte, zu einem frugalen Mittagsmahl in aller Einsamkeit. Beim Betreten der Einkaufspassage sah ich eine attraktive ältere Dame, die meiner Mutter überraschend ähnlich sah. Es war meine Mutter. Sie trug einen perlgrauen Hosenanzug, und ihr Haar wirkte blonder – wie frisch gefärbt.
    »Was starrst du so?«, sagte sie ein wenig unwirsch.
    »Ich staune. Du siehst wunderbar aus.«
    »Mir geht es wieder besser. Aber du siehst schrecklich aus. Richtig elend.«
    »Ich glaube, ich stehe vor einer lebenswichtigen Entscheidung. Gerade wollte ich auf einen Drink. Hättest du Lust?«
    Sie war nicht abgeneigt, also kehrten wir um und steuerten die Turf Tavern an. Drinnen war es dunkel und kühl – sehr wohltuend nach der knallheißen Junisonne. Der alte Steinfußboden war frisch gewischt und noch feucht, und es war fast leer. Wir suchten uns einen Ecktisch, ich ging an die Bar und bestellte ein Glas Bier für mich und Tonic mit Eis und Zitrone für meine Mutter. Während ich die Gläser hinübertrug, dachte ich an die letzte Episode aus dem

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