Ruhelos
Idioten«, sagte er. Offenbar erregte er sich immer noch über dieses Beispiel britischer Inkompetenz – als wäre es irgendwie gegen ihn persönlich gerichtet gewesen. »Warum haben die sich auf ein Treffen so nahe der Grenze eingelassen?« Mit tiefem Abscheu schüttelte er den Kopf. »Wir sind im Krieg mit Deutschland, verflucht noch mal!« Er ließ sich einen neuen Drink bringen. »Die sehen das immer noch als eine Art Spiel, bei dem sich eine bestimmte englische Haltung am Ende durchsetzt – immer nur Fairplay, Tapferkeit und Ritterlichkeit.« Er starrte schweigend auf den Tisch. »Sie haben ja keine Ahnung, wie schwierig das alles für mich ist«, sagte er und sah plötzlich müde aus, um Jahre gealtert. Es war das erste Mal, stellte Eva fest, dass er so etwas wie Verletzlichkeit zeigte oder für sich in Anspruch nahm. »Die Leute da oben – in unserer Branche –, die muss man gesehen haben, um das für möglich zu halten …«, sagte er, doch dann, als hätte er seinen Ausrutscher bemerkt, nahm er wieder Haltung an und lächelte.
Eva zog die Schultern hoch. »Was können wir tun?«
»Nichts. Oder sagen wir, das Bestmögliche unter den gegebenen Umständen. Wenigstens ist Ihnen nichts passiert«, sagte er.
»Sie können sich vorstellen, was ich mir dachte, als ich diese Autos über die Grenze rasen und vor dem Café halten sah. Dann all das Umhergerenne und die Schüsse.«
»Da war ich schon im Wald«, sagte Eva und dachte an diesen Moment zurück, sah Joos noch einmal in seinem engen Anzug aus dem Gasthaus laufen und seinen Revolver abfeuern. »Das Mittagessen war gerade vorbei – irgendwie kommt mir das Ganze immer noch unwirklich vor.«
Sie verließen das Continental, gingen auf den Deich hinaus und blickten über den Kanal in Richtung England. Es war Ebbe, der Strand glitzerte silbern und orange im Licht der Promenade.
»Verdunkelung in England«, sagte Romer. »Ich glaube, wir haben keinen Grund, uns zu beschweren.«
Sie bummelten weiter zum Chalet Royal und bogen in die Avenue de la Reine ein – sie führte direkt zu Evas Wohnung. Wie auf Ferienreise sehen wir aus, dachte sie, oder auf Hochzeitsreise – und verkniff sich den Gedanken.
»Wissen Sie, ich fühle mich immer unwohl in Belgien«, setzte Romer seine ungewohnt persönlichen Bekenntnisse fort. »Ich bin immer auf dem Sprung.«
»Warum das?«
»Weil ich hier beinahe umgekommen wäre. Im Krieg, 1918. Hier habe ich mein Glück schon zu sehr strapaziert, glaube ich.«
Romer im Krieg, dachte sie. Da muss er sehr jung gewesen sein, wenn nicht gar unter zwanzig. Wie wenig wusste sie doch über diesen Mann, der neben ihr ging, und was hatte sie nicht alles riskiert, einzig auf sein Geheiß. Vielleicht ist das so in Kriegszeiten, dachte sie. Vielleicht ist das ganz normal. Sie waren zu ihrem Haus gelangt.
»Dann will ich mal«, sagte sie.
»Ich bringe Sie zur Tür«, erwiderte er. »Ich muss sowieso zurück zur Agentur.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Danke. Es war sehr nett mit Ihnen. Wer immer an die Arbeit denkt, statt ans Vergnügen – und so weiter.«
Eva blieb vor der Haustür stehen und holte ihre Schlüssel heraus. »Ja, es war sehr nett«, sagte sie, sorgfältig darauf bedacht, sich an seine Floskeln zu halten. Ihre Blicke trafen sich, beide lächelten.
Einen kurzen Moment lang dachte Eva, dass Romer sie umarmen und küssen wollte, und ein heftiger Taumel erfasste sie.
Doch er sagte nur: »’n Abend. Bis morgen dann«, und schlenderte davon. Er hob noch halb winkend, halb grüßend die Hand und zog seinen Regenmantel über, weil es eben wieder zu nieseln begann.
Eva stand vor der Haustür – so verstört, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Aber es war nicht so sehr der Gedanke an einen Kuss von Lucas Romer als vielmehr die plötzliche Erkenntnis, dass sie ihn herbeigesehnt hatte.
5
Rote-Armee-Fraktion
Bobbie York goss mir Whisky ein, »einen winzigen«, sagte er, fügte etwas Wasser hinzu, dann bediente er sich äußerst großzügig und füllte sein Glas bis zum Rand mit Wasser auf. Er »verabscheute« Sherry, wie er häufig betonte – der reinste Dreck, das Schlimmste, was man überhaupt trinken konnte. In der theatralischen Drastik seiner Übertreibungen erinnerte er mich an meine Mutter – aber nur darin.
Robert York, M.A. (Oxon), war nach meiner Schätzung Ende fünfzig, Anfang sechzig, groß, massig, mit lichtem grauem Haar, das er zurückkämmte und mit einer Pomade oder Creme bändigte, die
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