Ruhelos
Gefangenschaft sei. »Er wird sich freuen, wenn er hört, dass er sich geirrt hat«, sagte Morris trocken. »Was hattet ihr da eigentlich zu suchen?«
Früh am nächsten Morgen traf Eva in Ostende ein (eine Busfahrt mit Umsteigen von Prenslo nach Den Haag, wo sie lange auf den Nachtzug nach Brüssel warten musste) und ging sofort in die Agentur. Weder Angus Woolf noch Blytheswood äußerten sich zu dem Vorfall, nur Sylvia nahm sie beim Arm, als niemand schaute. »Alles in Ordnung, meine Süße?«, flüsterte sie und legte den Finger auf den Mund. Eva lächelte und nickte.
Am Nachmittag sagte Morris, sie werde im Konferenzzimmer erwartet. Dort fand sie Romer vor, im smarten dunklen Anzug mit leuchtend weißem Hemd und Streifenkrawatte – wie auf dem Sprung zu irgendeinem Vortrag. Er winkte sie zu einem Stuhl. »Erzählen Sie mir alles, bis ins letzte Detail.«
Und das tat sie, mit beachtlichem Erinnerungsvermögen, wie sie fand. Er saß da und hörte aufmerksam zu, nickte von Zeit zu Zeit, bat sie, eine Einzelheit zu wiederholen. Notizen machte er nicht. Jetzt sah sie ihn am Fenster stehen, wo er einen herablaufenden Tropfen mit dem Zeigefinger verfolgte.
»Also«, sagte er, ohne sich umzudrehen, »ein Toter und zwei britische Geheimagenten in deutscher Gefangenschaft.«
»Das ist nicht meine Schuld. Ich sollte nur die Augen und Ohren aufsperren, haben Sie gesagt.«
»Das sind doch Amateure!« Die Verachtung machte seine Stimme hart. »Trottel und Amateure, die sich noch immer an Sapper halten und Buchan und Erskine Childers. ›The Great Game‹ – ich könnte kotzen.« Er drehte sich zu ihr um. »Ein Riesencoup für den deutschen Sicherheitsdienst. Die können noch gar nicht fassen, wie leicht es war, zwei britische Profi-Agenten zu übertölpeln und einzukassieren. Wir stehen da wie komplette Idioten. Wir sind komplette Idioten – das heißt, nicht alle …« Er versank wieder in Nachdenken. »Joos ist eindeutig getötet worden, sagen Sie.«
»Das kann ich behaupten – eindeutig. Die müssen vier- oder fünfmal getroffen haben. Aber ich habe nie zuvor gesehen, wie ein Mann erschossen wird.«
»Jedenfalls haben sie die Leiche mitgenommen. Interessant.« Jetzt drehte er sich um und zeigte mit dem Finger auf sie. »Warum haben Sie die britischen Agenten nicht gewarnt, als Joos das zweite Losungswort verpatzte? Nach Ihrem Kenntnisstand hätte Joos auch für die Deutschen arbeiten können.«
Eva hielt ihre Wut im Zaum. »Sie wissen genau, wie wir uns zu verhalten haben. Die Regel lautet Rückzug – auf der Stelle. Wenn man merkt, dass etwas nicht stimmt, wartet man nicht ab, ob der Eindruck berechtigt war – oder versucht gar, die Sache zu kitten. Man verschwindet – und zwar sofort. Genau das hab ich getan. Hätte ich den Raum betreten, um die beiden zu warnen …« Sie rang sich ein Lachen ab. »Die zwei anderen Deutschen waren sowieso dabei. Ich glaube, dann würde ich nicht hier sitzen und mit Ihnen reden.«
Romer schritt umher, blieb stehen, blickte sie an.
»Nein, Sie haben recht. Sie haben absolut recht. Wie Sie gehandelt haben – operativ gesehen –, war absolut korrekt. Alle anderen um Sie herum haben gestümpert, haben sich benommen wie Trottel.« Er schenkte ihr sein strahlendes Lächeln. »Gut gemacht, Eva. Gute Arbeit. Sollen die ihren Schlamassel selber in Ordnung bringen.«
Sie stand auf. »Kann ich jetzt gehen?«
»Hätten Sie Lust auf einen Spaziergang? Trinken wir auf Ihre Feuertaufe.«
Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Deich, der langen und imposanten Promenade von Ostende mit ihren großen Hotels und Pensionen, die an einem Ende vom wuchtigen orientalischen Bau des Kursaals mit seinen Spiel-, Tanz- und Konzerthallen überragt wurde, am anderen Ende vom massigen Klotz des Royal Palace Hotels. Die Caféterrassen des Kursaals waren alle geschlossen, also gingen sie in die Bar des Continental, wo Romer einen Whisky bestellte und Eva sich für einen trockenen Martini entschied. Der Regen hatte nachgelassen, und die Abendluft klarte so weit auf, dass sie draußen auf See die blinkenden Lichter einer Fähre vorbeiziehen sahen. Eva spürte die beruhigende Wirkung des Alkohols, während sie Romer zuhörte, der zum wiederholten Male die Abläufe des »Prenslo-Zwischenfalls« durchging, wie er ihn nun nannte, und ihr ankündigte, es könne sein, dass sie seinen geplanten Bericht für London ergänzen oder überarbeiten müsse.
»Schulkinder hätten das besser hingekriegt als diese
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