Ruhelos
Leben der Eva Delektorskaja und versuchte mir vorzustellen, dass meine Mutter – damals vielleicht so alt wie ich – mit eigenen Augen sah, wie Leutnant Joos erschossen wurde. Ich setzte mich ihr gegenüber. Sie hatte gemeint, je mehr ich läse, umso mehr würde ich verstehen, aber davon war ich offenbar noch weit entfernt. Ich hob mein Glas und prostete ihr zu. »Chin-chin«, erwiderte sie. Und während ich mein Bier trank, schaute sie mich an, als wäre ich nicht recht bei Trost.
»Wie kannst du so ein Zeug trinken?«
»Ich bin in Deutschland auf den Geschmack gekommen.«
Dann erzählte ich ihr, dass Ludger, der Bruder von Karl-Heinz, für ein paar Tage bei uns wohnte. Sie erwiderte, dass ich der Familie Kleist gewiss keinen Gefallen schuldig sei, aber sie wirkte unbeteiligt, wenn nicht gar desinteressiert. Ich fragte sie, was sie in Oxford zu tun hatte – normalerweise machte sie ihre Einkäufe lieber in Banbury oder Chipping Norton.
»Ich habe mir eine Genehmigung geholt.«
»Eine Genehmigung wofür? Einen Behindertenparkplatz?«
»Für ein Gewehr.« Sie registrierte mein ungläubiges Starren. »Wegen der Kaninchen – sie verwüsten den Garten. Außerdem, Liebling – ich will ehrlich sein –, fühle ich mich im Haus nicht mehr sicher. Mein Schlaf hat gelitten – bei jedem Geräusch schrecke ich hoch und bin dann so wach, dass ich nicht weiterschlafen kann. Mit einem Gewehr fühle ich mich sicherer.«
»Du wohnst seit Vaters Tod in dem Haus«, erinnerte ich sie. »Sechs Jahre. Du hattest nie Probleme damit.«
»Das Dorf hat sich verändert«, sagte sie düster. »Ständig fahren Autos durch. Fremde. Niemand weiß, wer sie sind. Und irgendwas stimmt nicht mit meinem Telefon. Es klingelt einmal, dann wird aufgelegt. Ich höre Stimmen in der Leitung.«
Ich beschloss, genauso gelassen zu reagieren wie sie. »Na, du musst es ja wissen. Aber bring dich nicht versehentlich um.«
»Ich weiß, wie man mit einem Gewehr umgeht«, erwiderte sie mit einem kurzen, selbstgefälligen Kichern. Ich sagte lieber nichts dazu.
Sie kramte in ihrer Tasche und holte einen großen braunen Umschlag hervor. »Die nächste Lieferung. Ich wollte sie auf dem Heimweg bei dir einwerfen.«
»Ich kann’s gar nicht erwarten«, sagte ich, diesmal ohne jede Ironie.
Als ich den Umschlag entgegennahm, hielt sie meine Hand fest. »Ruth, Liebling. Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich besorge dir einen guten Arzt.«
Einen Moment lang dachte ich, sie wollte mich schlagen.
»Nimm dich in Acht. Du bist nicht mein Vormund.«
»Natürlich helfe ich dir«, sagte ich. »Beruhige dich. Du weißt, ich tue alles für dich. Also, worum geht’s?«
Sie drehte ihr Glas eine Weile hin und her, bevor sie antwortete. »Ich möchte, dass du versuchst, Romer ausfindig zu machen.«
Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Ostende 1939
Eva saß im Konferenzzimmer der Agentur. Draußen ging ein heftiger Regenschauer nieder. Das Prasseln klang, als würde jemand Sand an die Scheiben werfen. Es wurde immer dunkler, und sie sah, dass in den Häusern gegenüber schon überall Licht brannte. Doch im Konferenzzimmer brannte kein Licht. Es herrschte eine merkwürdige Düsternis, wie an einem vorzeitig hereingebrochenen Winterabend. Sie nahm einen Bleistift vom Tisch und ließ das Ende mit dem Radiergummi auf ihren linken Daumen fallen. Vergeblich versuchte sie, das Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben – den jungenhaften Spurt des Leutnant Joos quer über den Parkplatz in Prenslo – ganz leichtfüßig, dann das Stolpern und der Sturz.
»Er hat ›Amsterdam‹ gesagt«, wiederholte Eva leise. »Er hätte ›Paris‹ sagen müssen.«
Romer zuckte die Schultern. »Ein simpler Fehler. Ein alberner Patzer.«
Eva hielt ihre Stimme im Zaum. »Ich habe mich lediglich an meine Instruktionen gehalten. So wie Sie es ständig fordern. Eine Romer-Regel. Deshalb benutzen wir doppelte Losungswörter.«
Romer stand auf, ging ans Fenster und blickte zu den Lichtern hinüber.
»Das ist nicht der einzige Grund«, sagte er. »Sie dienen auch der Wachsamkeit.«
»Nun, bei Leutnant Joos hat das nicht funktioniert.«
Eva dachte an den Nachmittag zurück – den gestrigen Nachmittag. Als sie im Hotel Willems erfuhr, dass Romer abgereist war, rief sie sofort die Agentur an. Morris Devereux erklärte ihr, Romer sei schon auf der Rückfahrt nach Ostende, und er habe angerufen, um mitzuteilen, dass Eva entweder tot oder verwundet oder in deutscher
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