Ruhelos
Krieg entscheiden, der dreitausend Meilen entfernt ist?
In der Agentur fand sie Morris mit der tschechischen und der spanischen Übersetzerin beschäftigt. Er winkte ihr zu, und sie ging weiter in ihr Büro. Ihr fiel auf, dass es in den Vereinigten Staaten alle möglichen Nationalitäten gab – die irische, spanische, deutsche, polnische, tschechische, litauische und so weiter –, aber nicht die britische. Wo waren die britischen Amerikaner? Wer machte sich für sie stark, um den Argumenten der irischen, der deutschen, der schwedischen Amerikaner und all der anderen zu begegnen?
Um sich aufzumuntern und von diesen defätistischen Gedanken abzulenken, verbrachte sie den Nachmittag damit, ein kleines Dossier über eine ihrer Storys zusammenzustellen. Drei Wochen zuvor hatte sie, einen kleinen Schwips vortäuschend, in einem Gespräch mit dem New Yorker TASS-Korrespondenten (ihr Russisch kam ihr dabei sehr zupass) durchblicken lassen, dass die Royal Navy dabei war, eine neue Sorte von Wasserbomben zu erproben: Je tiefer sie zündete, umso stärker die Detonation – für U-Boote gebe es kein Entrinnen mehr. Der Mann von der TASS zeigte sich skeptisch. Zwei Tage später spielte Angus die Meldung – über das Büro der ONA – der New York Post zu. Der TASS-Mann rief an, um sich zu entschuldigen, und kündigte an, die Meldung nach Moskau weiterzukabeln. Als sie in den russischen Zeitungen erschien, griffen die englischen Zeitungen und Agenturen sie auf und leiteten sie weiter in die USA – der Kreis hatte sich geschlossen. Sie breitete die Zeitungsausschnitte auf dem Schreibtisch aus: Daily News, Herald Tribune, Boston Globe. »Neue tödliche Waffe gegen die U-Boot-Bedrohung.« Jetzt, da es eine amerikanische Meldung war, würden die Deutschen sie zur Kenntnis nehmen. Vielleicht erhielten die U-Boote Befehl, sich bei der Annäherung an Konvois vorsichtiger zu verhalten. Vielleicht würden die deutschen U-Boot-Besatzungen demoralisiert. Vielleicht würden die Amerikaner den wackeren Briten ein bisschen mehr zur Seite stehen. Vielleicht, vielleicht … Wenn sie Angus Glauben schenkte, war das alles Zeitverschwendung.
Ein paar Tage später kam Morris Devereux mit einem Ausschnitt aus der Washington Post in ihr Zimmer. Überschrift: »Russischer Professor begeht Selbstmord in Washingtoner Hotel.« Sie überflog den Artikel: Der Russe hieß Alexander Nikitsch, war 1938 mit Frau und zwei Töchtern in die USA emigriert und hatte als Professor für internationale Politik an der Johns Hopkins University gelehrt. Die Polizei fragte sich, warum er sich ausgerechnet in einem schäbigen Hotel umgebracht haben sollte.
»Sagt mir gar nichts«, meinte Eva.
»Nie von ihm gehört?«
»Nein.«
»Haben ihn deine Freunde von der TASS nie erwähnt?«
»Nein. Aber ich kann mich erkundigen.« Irgendetwas an Morris’ Art zu fragen kam ihr seltsam vor. Sonst die Gelassenheit in Person, klang er jetzt geradezu bohrend.
»Warum ist das wichtig?«, fragte sie.
Morris setzte sich und schien ein wenig zu entspannen. Nikitsch, erklärte er, sei ein hoher NKWD-Offizier gewesen, der nach den Stalin’schen Säuberungen von 1937 in die USA desertierte.
»Zum Professor haben sie ihn nur der Form halber gemacht – er hat nie gelehrt. Offenbar ist er – war er – eine Goldmine, was Informationen über die sowjetische Infiltration der USA betrifft … und Großbritanniens«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Deshalb waren wir sehr an ihm interessiert.«
»Ich dachte, wir ziehen jetzt alle am selben Strang«, sagte Eva und wusste schon, wie naiv das klang.
»Klar. Aber schau uns an. Was machen wir denn hier?«
»Einmal Krähe, immer Krähe.«
»Genau. Man möchte immer wissen, was die Freunde im Schilde führen.«
Sie überlegte kurz. »Was geht dich dieser tote Russe an? Ist doch nicht dein Bier, oder?«
Morris nahm den Zeitungsausschnitt wieder an sich. »Ich war mit ihm verabredet, für nächste Woche. Er wollte uns erzählen, was in England alles so gelaufen ist. Die Amerikaner haben von ihm bekommen, was sie wollten – offenbar hatte er sehr interessante Informationen für uns.«
»Und jetzt ist es zu spät.«
»Ja … sehr ungünstig.«
»Wie meinst du das?«
»Mir sieht es danach aus, als wollte jemand verhindern, dass er mit uns redet.«
»Und deshalb hat er sich umgebracht.«
Er lachte auf. »Die sind verdammt gut, diese Russen. Nikitsch hat sich in den Kopf geschossen, in einem abgeschlossenen Hotelzimmer, die
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