Ruhelos
Eingang erschien. Er war der Eigentümer und Betreiber der Radiostation von Meadowville, WNLR, einer von zwei Sendern, die sie »betreute«. Sie sah ihn eintreten, den Hut in der Hand, sah den schweifenden Blick, der kurz innehielt, als er sie in ihrem Abteil entdeckte, dann trat er ein, voller Unschuld, wie ein beliebiger Kunde, und hielt Ausschau nach einem Platz. Eva stand auf, ließ die Herald Tribune auf der Polsterbank liegen und ging zur Kasse, um zu bezahlen. Johnson setzte sich einen Moment später auf ihren Platz. Eva ging hinaus in den Oktobersonnenschein und schlenderte durch die Market Street Richtung Bahnhof.
In der Tribune lag das Zyklostyl-Bulletin einer Nachrichtenagentur namens Transoceanic Press, der Agentur, bei der Eva arbeitete. Das Bulletin enthielt Berichte aus deutschen, französischen und spanischen Zeitungen, die sich mit der triumphalen Rückkehr von U-549 nach La Rochelle befassten. Dieses U-Boot hatte in der Woche zuvor den US-Zerstörer Kearny torpediert, wobei elf amerikanische Matrosen ums Leben gekommen waren. Die Kearny, schwer angeschlagen, hatte sich bis nach Reykjavik geschleppt. Auf den Kommandoturm von U-549 waren beim Einlaufen in La Rochelle, so berichtete Evas Bulletin, mit frischer Farbe elf Stars and Stripes gemalt. Und die Hörer von WNLR würden die Ersten sein, die es erfuhren. Wilbur Johnson, ein strammer Anhänger Roosevelts und Bewunderer Churchills, war zufällig mit einer Engländerin verheiratet.
Im Zug zurück nach New York saßen sich Eva und Romer gegenüber. Romer, den Kopf auf die Faust gestützt, starrte sie versonnen an.
»Verrat mir deine schmutzigen Gedanken«, sagte Eva.
»Wann ist deine nächste Reise?«
Sie überlegte: Ihr anderer Sender lag hoch im Norden des Staates New York, in Franklin Forks bei Burlington, nicht weit von der kanadischen Grenze. Betrieben wurde er von einem wortkargen Polen, der Paul Witoldski hieß und 1939 in Warschau viele Angehörige verloren hatte, daher sein strikter Antifaschismus. Sie musste ihm mal wieder einen Besuch abstatten; seit einem Monat hatte sie ihn nicht gesehen.
»In einer Woche etwa, nehme ich an.«
»Dann buche ein Doppelzimmer für zwei Nächte.«
»Yes, Sir.«
In New York verbrachten sie selten eine Nacht miteinander; zu viele Leute konnten Wind davon bekommen, deshalb zog es Romer vor, Eva auf ihren Reisen zu begleiten und die Anonymität der Provinz zu nutzen.
»Was treibst du heute?«, fragte sie.
»Eine große Konferenz im Hauptbüro. Interessante Entwicklungen in Südamerika, wie es scheint … Und du?«
»Ich gehe essen mit Angus Woolf.«
»Der gute alte Angus. Grüß ihn von mir.«
In Manhattan ließ sich Romer vom Taxi am Rockefeller Center absetzen – wo das Büro mit dem unscheinbaren Namen British Security Coordination mittlerweile zwei ganze Etagen belegte. Eva war einmal dort gewesen und hatte über die Menge an Personal gestaunt: lange Flure mit Büros zu beiden Seiten, emsige Sekretärinnen und Sachbearbeiter, Schreibmaschinen, Telefone, Fernschreiber – Hunderte und Aberhunderte von Leuten wie bei einer richtigen Firma mit Sitz in New York. Oft fragte sie sich, was wohl die britische Regierung sagen würde, wenn sich Hunderte von amerikanischen Geheimdienstlern in einem Gebäude der Oxford Street tummelten – vielleicht, dachte sie, ist man hier in diesen Dingen irgendwie toleranter; jedenfalls schien es die Amerikaner nicht zu stören, keiner beschwerte sich, und folglich wuchs die British Security Coordination (kurz BSC) ungehindert weiter. Romer hingegen, der ewige Außenseiter, versuchte, seine Leute zu verteilen oder wenigstens auf Armeslänge von der Zentrale fernzuhalten. Sylvia arbeitete dort, aber Blytheswood war beim Sender WRUL, Angus Woolf (ehemals Reuters) bei der Overseas News Agency und Eva und Morris Devereux leiteten das Übersetzerteam bei der Transatlantic Press, einer kleinen amerikanischen Nachrichtenagentur nach dem Vorbild der Agence Nadal, die sich auf spanische und lateinamerikanische Nachrichten spezialisierte und die die BSC (über amerikanische Mittelsmänner) Ende 1940 in aller Stille für Romer aufgekauft hatte. Romer war im August jenes Jahres nach New York gefahren und hatte alles vorbereitet, Eva und die anderen reisten einen Monat später – über Toronto in Kanada –, um sich dann in New York zu etablieren.
Evas Taxi konnte nicht losfahren, weil gerade ein Bus vorbeikam, der Fahrer würgte den Motor ab, und während er ihn neu startete,
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